Einführung zur Orchesterprobe des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 12. Dezember 2018


Jörg Widmann: 2. Violinkonzert

Jörg Widmann
Jörg Widmann (* 1973 in München)

Jörg Widmann absolvierte ein Klarinettenstudium an der Hochschule für Musik in München bei Gerd Starke, 1994 bis 1995 bei Charles Neidich an der Juilliard School in New York. Zusätzlich begann er im Alter von elf Jahren, Kompositionsunterricht bei Kay Westermann zu nehmen. Im Anschluss setzte er seine Studien bei Wilfried Hiller und Hans Werner Henze (1994 bis 1996) sowie bei Heiner Goebbels und Wolfgang Rihm in Karlsruhe (1997 bis 1999) fort. Als Klarinettist gilt Widmanns große Passion der Kammermusik. Er musiziert regelmäßig mit Partnern wie Daniel Barenboim, Tabea Zimmermann, Heinz Holliger, András Schiff, Kim Kashkashian und Hélène Grimaud. Aber auch als Solist in Orchesterkonzerten feiert er im In- und Ausland regelmäßig Erfolge. Kompositionskollegen widmeten Widmann mehrere Werke: 1999 brachte er im Rahmen der musica viva-Konzerte die Musik für Klarinette und Orchester von Wolfgang Rihm zur Uraufführung; 2006 spielte er mit dem WDR Sinfonieorchester Cantus von Aribert Reimann, 2009 beim Lucerne Festival die Uraufführung von Heinz Holligers Rechant. Von 2001 bis 2015 war Jörg Widmann Professor für Klarinette an der Freiburger Hochschule für Musik und ab 2009 erhielt er hier eine zusätzliche Professur für Komposition. Seit 2017 bekleidet er einen Lehrstuhl an der Barenboim-Said-Akademie in Berlin.
 Im Zentrum seines Kammermusikschaffens stehen die Streichquartette: das I. Streichquartett (1997), gefolgt vom Choralquartett (2003/2006) und dem 2003 durch das Arditti Quartett uraufgeführten Jagdquartett. 2005 wurde die Werkreihe mit dem IV. Streichquartett (uraufgeführt durch das Vogler Quartett) und dem fünften Streichquartett mit Sopran Versuch über die Fuge, (uraufgeführt von Juliane Banse und dem Artemis Quartett) komplettiert. Die fünf Streichquartette sind als großer Zyklus gedacht, jedes einzelne spürt auf neue Weise einer traditionellen Satzform nach.
 Für großes Orchester hat Widmann eine Trilogie über die Transformation vokaler Formen auf instrumentale Besetzungen komponiert. Sie besteht aus den Werken Lied (2003/2007), Chor (2004) und Messe (2005). Eine weitere Trilogie bilden die Stücke Labyrinth (2005), Zweites Labyrinth (2006) und Drittes Labyrinth (2013/2014). Alle drei beziehen sich auf die mit dem Labyrinth assoziierten Erfahrungen von Raumwahrnehmung und der Suche nach Orientierung. 2007 hoben Christian Tetzlaff und die Junge Deutsche Philharmonie Widmanns Violinkonzert aus der Taufe. Im selben Jahr wurde Armonica für Orchester von Pierre Boulez und den Wiener Philharmonikern uraufgeführt: Unter Verwendung der sphärischen Klangfarben einer Glasharmonika lässt Widmann das Orchester zu einem homogen atmenden Ton- und Geräuschkörper heranwachsen. Als Hommage an Beethoven folgte Con brio, uraufgeführt durch das Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Mariss Jansons. In seinem Flötenkonzert Flûte en suite stellt Widmann der virtuosen Flötenstimme in acht Suitensätzen spielerisch jeweils eine Orchestergruppe entgegen. Franz Welser-Möst leitete 2011 die Uraufführung mit dem Solisten Joshua Smith und dem Cleveland Orchestra. Für den Pianisten Yefim Bronfman schrieb Widmann das Klavierkonzert Trauermarsch. Es wurde im Dezember 2014 mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Simon Rattle uraufgeführt. Im Viola Concerto, das im November 2015 vom Orchestre de Paris und dem Solisten Antoine Tamestit aus der Taufe gehoben wurde, lotet Widmann die vielfältigen Klangmöglichkeiten des Instruments auf einzigartige Weise aus.
 Drei Musiktheaterprojekte weisen Widmann als Bühnenkomponisten aus: Die Oper Das Gesicht im Spiegel wurde von der Zeitschrift Opernwelt zur bedeutendsten Uraufführung der Spielzeit 2003/04 gewählt. Am Anfang (2009) ist das Ergebnis einer in dieser Art einmaligen Zusammenarbeit zwischen einem bildenden Künstler und einem Komponisten; Widmann kreierte das Werk gemeinsam mit Anselm Kiefer und dirigierte die Uraufführung anlässlich der 20-Jahrfeier der Pariser Opéra Bastille. Sein jüngstes Musiktheaterwerk Babylon (2011/12) entstand im Auftrag der Bayerischen Staatsoper. Widmann und der hier erstmalig als Librettist in Erscheinung tretende Peter Sloterdijk interpretieren in ihrem musikdramatischen Gesamtkunstwerk den Mythos Babylon neu.
 Widmann erhielt für seine kompositorischen Leistungen zahlreiche Preise.
 Als Komponist verfolgt Widmann das Konzept einer prozessual offenen Form, in kammermusikalisch knapp formulierten Bruchstücken ebenso wie in groß dimensionierten Orchesterwerken. Infolge des durch seinen Lehrer Wolfgang Rihm von Arnulf Rainer aus der Bildenden Kunst entlehnten Begriffs der „Übermalung“ stehen dabei zahlreiche Werke untereinander in substantieller Beziehung, Experimentalstücke wie Hallstudie oder Signale (beide 2003) stehen neben offensiv traditionellen Werken wie dem Orchesterzyklus Lied – Chor – Messe. Der Genese seines Klarinettentons entsprechend thematisiert Widmann häufig das Werden und Vergehen der Musik selbst und geht dabei oft – wie in den Etudes für Violine solo (1995-2006) – an die Grenzen der technischen Ausführbarkeit. In großformaler Architektur werden tonal komponierte Blöcke, offen oder verschleiert versetzt mit Zitaten aus Klassik und Romantik, in unterschiedlichen Zeitschichten übereinander gelagert und an ihren Rändern geräuschhaft zerfasert, der gesetzte Wohllaut erweist sich immer als labil. Die abendfüllende Oper, Das Gesicht im Spiegel, setzt sich – dies durchaus im Gestus einer quasi modernisierten Offenbachschen Operette – zeitaktuell mit den sozio-ökonomischen Gefährdungen der Gesellschaft durch Gentechnik und Klonversuche am Menschen auseinander.



2. Violinkonzert (2018)

Orchesterbesetzung: Solo-Violine – drei Flöten (alle auch Picc.), drei Oboen (3. auch Englischhorn), drei Klarinetten (2. auch Bassklarinette, 3. auch Kontrabassklarinette), drei Fagotte (3. auch Kontrafagott) – vier Hörner, drei Trompeten, drei Posaunen, Tuba – Pauken, drei Schlagzeuger, Harfe, Celesta – Streicher geteilt (12-10-8-6-6), alle Kontrabässe 5-Saiter
Spieldauer: ca. 35 Min.
Sätze: I. Una ricerca
II. Romanze
III. Mobile
Auftrag der Suntory Hall Tokyo, des Orchestre de Paris und des Hessischen Rundfunks.
Widmung: „für Caro“ (Carolin Widmann)
Uraufführung: 31. 8. 2018, Suntory Hall Tokyo, Leitung: Jörg Widmann.

In einem Interview sagte Jörg Widmann einmal, es sei doch ironisch, dass es ihm in seinen frühen Jahren besonders schwer gefallen sei, Melodien zu komponieren, ein Ensemble zum Singen zu bringen, obwohl er doch mit der Klarinette ein Melodieinstrument spiele. Vielleicht ist auch deshalb die Violine so ein besonderes Instrument für ihn? Auf jeden Fall formuliert er: „Das Violinkonzert ist eine ‚heilige‘ Gattung. Auch eine Gattung, der man Persönlichstes anvertraut. Zumal dieses Violinkonzert meiner Schwester gewidmet ist. Das Gesangsinstrument Violine als Träger unterschiedlichster menschlicher Emotionen.“
 Die drei Auftraggeber des Werkes nahmen natürlich auch die ersten Aufführungen für sich in Anspruch. Die Uraufführung war in Tokyo in der Suntory Hall mit dem Tokyo Metropolitan Symphony Orchestra unter der Leitung des Komponisten, es folgten drei Aufführungen Ende September mit dem Orchestre de Paris unter der Leitung von Daniel Harding, zwei davon in Paris, eine in Lugano, und jetzt die Frankfurter Aufführung.
 Wie sein Lehrer, Wolfgang Rihm, zeigt sich Widmann in dieser Komposition einem dynamischen Formbegriff verpflichtet. Ein primärer ästhetischer Impuls wird zu einer Werkidee entwickelt und in einer Arbeitsweise spontaner Subjektivität in einen mehr oder weniger kontinuierlichen Fluss gebracht. Dabei weist das Stück ein durchaus begrenztes Ton- und Gestenmaterial auf, das in permanenter spielerischer Variation zu großer Klang- und Farbenvielfalt entwickelt wird.
 Die drei Sätze des 2. Violinkonzerts sind sehr unterschiedlich gewichtet. Während der erste und letzte Satz jeweils etwa fünf Minuten dauern, ist der Mittelsatz fünfmal so lang.
 Der erste Satz „Una ricerca“ (= eine Suche) wird überwiegend von dem Soloinstrument angeführt, das Orchester mischt sich nur ganz am Rande ein, nimmt klanglich Erreichtes auf, verstärkt, kontrapunktiert, kommentiert. Die Geige bewegt sich anfangs klanglich am Rande des Hörbaren. Striche auf dem Holz der Zarge und des Steges, kleine Schlagbewegungen mit dem Bogenholz oder den Bogenhaaren sind die Spieltechniken. Es dauert lange bis so etwas wie ein Ton erreicht ist. Und auch dieser bleibt labil, zerbricht wieder, es bilden sich Gestalten, Gesten heraus, die vereinzelt bleiben. Die Antworten des Orchesters bleiben zunächst Beimischungen, die den Geigenklang leicht verschieben, Aspekte von ihm aufnehmen, verlängern, um wieder zu verschwinden. Dann bilden sich Klopfrhythmen, die sich beschleunigen, in einem luftigen Tremolo stehen bleiben, in eine Passage mit Kontrabassklarinette, dann Kontrafagott und schließlich den Pauken übergehen. Dann steht die Solo-Violine wieder alleine und mischt diesmal den Klang der eigenen Stimme dazu, wird kräftiger und steigert das Tempo. Und plötzlich schleicht sich das Orchester diesmal mit gläsernem Flageolett-Klang der Streicher und großem Luftklang der Blechbläser wieder ein. Es schließt sich eine pizzicato-Passage der Solo-Geige an, kurz unterbrochen durch einige heftige Akzente des Orchesters, um dann mit gestrichenen Tönen und immer schnellerem Tempo über einem tiefen Basston in den Schluss des Satzes zu führen, der in einen quasi explosiven Ausbruch des Orchesters führt. Fast alle der im ersten Satz exponierten Klangmaterialien tauchen im späteren wieder auf und werden dort bestimmend.
 Über den zweiten Satz, die „Romanze“ schreibt Widmann: „In diesem Satz wird ein weit verzweigter seelischer Kosmos aufgespannt, es ist eine Reise ins Innere. Unterschiedlichste emotionale Zonen werden durchquert, Liedhaftes, Zartes steht neben Geräuschhaftem und bruitistischem Ausbruch. Aber immer bleibt die Geige die Erzählerin.“ Der Satz beginnt wiederum mit der Solo-Violine, diesmal aber mit einer flötenartig, wiegenden, kleinen Melodie. Nahezu ununterbrochen spielt sich die Solo-Violine durch den Satz in sehr unterschiedlichen Strukturen, Bewegungsmustern, Rhythmen, Lagen und Gesten, immer wieder auch allein gelassen ohne Begleitung. Das Orchester begleitet manchmal kontrastierend, manchmal ergänzend und verschmelzend. Aber die Suchbewegung des ersten Satzes kommt nicht mehr vor, auch wenn einiges an Klangmaterial des ersten Satzes wieder erscheint. Und es ist dieses Klangmaterial zusammen mit der durchgehenden Violinstimme, was schließlich den Satz zusammenhält, der auf den ersten Blick doch von sehr kurzen, in verschiedenste Ausdrucksbereiche springende Passagen geprägt ist.
 Im dritten Satz „Mobile“ nimmt Widmann Bewegungsmuster der beiden vorangegangen Sätze auf und bringt sie auf Höchstgeschwindigkeit. „In rasender Unruhe, so schnell wie möglich“ lautet die Spielanweisung für das Solo-Instrument, was auch diesen Satz eröffnet, zunächst wieder auf dem Steg mit abgedämpften Saiten gespielt, also nahezu ohne Ton, immer weiter entwickelt in ein rasendes Arpeggio-Spiel, aber immer noch nahe am Steg gestrichen, d.h. mit einem dünnen, obertonreichen Klang. Dies wird vom Orchester mit einem explosionsartigen Ausbruch beendet. Die Streicher beginnen nun ein repetitives Spiel mit Pizzicati, über das zuerst die Solo-Violine, anschließend auch die Bläser zunehmend verdichtet aufwärts steigende Läufe spielen, bis auch dieser Abschnitt abgelöst wird von einer kleinen chansonartigen Passage der Hörner mit der Harfe. Daraus entwickelt sich erneut ein Orchester-Tutti mit repetivem Streicherspiel und sich steigernden Bläser-Akkorden, die eine virtuose Arpeggio-Passage der Solo-Violine begleiten. Im weiteren steigert sich das Orchester in höchste Lautstärken und Ansteigen in höchste Höhen, reißt dann ab und es bleibt die Solo-Violine mit einer glissando-Passage. Wie schon im ersten Satz tritt hier die Kontrabassklarinette, dann die Bassklarinette, noch später zwei Fagotte und die Klarinette hinzu in einer virtuosen, zeitlich aber freien, nicht miteinander koordinierten quasi improvisierten Passage. Alle diese Stimmen enden irgendwann in einem lang gezogenen Triller, der durch den Dirigenten beendet wird. Dasselbe Spiel erfolgt jetzt mit drei Schlagzeugen auf Tamburin, Triangel und einer Bongo, später auch Xylophon. Die Blechbläser treten hinzu mit artikulierten Luftgeräuschen wie im ersten Satz, nach einer Weile taktweise unterbrochen von den Holzbläsern in absteigender Linie, die dann wieder in einem tremolierenden Akkord enden. Der Schluss entwickelt sich mit überaus lauten Akkord-Schlägen, die noch einmal immer weiter verdichtet werden und zum Schlussakkord wiederum in ein dichtes Tremolo münden. Der Schlussklang ist eine Überlagerung eines Es-Dur-Dreiklangs in der Tiefe und eines H-Dur-Dreiklangs in der Höhe, ein Klang, wie man ihn bei Strawinsky finden kann.
 Für Widmann selbst hat die Arbeit an dem Violinkonzert einige neue Denkweisen gebracht. Er schreibt: „… der Fokus auf Reduktion und Form ist neu. Er wäre ohne meine zweite Auseinandersetzung mit der Gattung Violinkonzert bei mir wohl so nicht entstanden.“


Andrés Orozco-Estrada

Leitung: Andrés Orozco-Estrada

1977 in Medellín, Kolumbien geboren. Er begann seine Ausbildung mit Violinunterricht. Als 15jähriger erhielt er den ersten Dirigierunterricht. Von 1997 bis 2003 studierte er an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Wien, in der Dirigierklasse von Uroš Lajovic, einem Schüler des legendären Hans Swarowsky. 2004 sprang Orozco-Estrada kurzfristig bei einem Festwochen-Konzert des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich im Wiener Musikverein ein. Dieses Konzert, nach dem Orozco-Estrada von der Wiener Presse als „das Wunder von Wien“ gefeiert wurde, führte zu einer intensiven Zusammenarbeit mit dem Orchester, sowie zu Einladungen zahlreicher internationaler Orchester. 2007 wurde er Chefdirigent des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich. Mit der Saison 2014/2015 folgte er Paavo Järvi als Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters und wurde Musikdirektor der texanischen Houston Symphony. Ab der Saison 2021/22 wird er Chefdirigent der Wiener Symphoniker als Nachfolger von Philippe Jordan.

Carolin Widmann

Violine: Carolin Widmann

wurde in München geboren und studierte bei Igor Ozim in Köln, Michèle Auclair in Boston und David Takeno an der Guildhall School of Music and Drama in London. Seit 2006 ist sie Professorin für Geige an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig. In der Saison 2014/15 war Carolin Widmann Artist in Residence an der Alten Oper Frankfurt. Sie erhielt zahlreiche Preise, spielte mit einer großen Anzahl von Orchestern und Dirigenten und ist international tätig. Jörg Widmanns Violinkonzert Nr. 2 ist ihr gewidmet und sie spielte die Uraufführung im letzten August in Tokyo.
Carolin Widmann spielt auf einer Giovanni Battista Guadagnini-Violine von 1782.