Offener Brief an Navid Kermani

zu seiner Rede am 18. Oktober 2015 anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Paulskirche, Frankfurt1

Man kann Navid Kermani dankbar sein, dass er in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels ein Thema ins Zentrum stellt, welches in Deutschland seit einiger Zeit fast nur noch unter dem Gesichtspunkt der Flüchtlinge und der Vermeidung von Fluchtgründen verhandelt wird: der Krieg und die schreckliche Situation der Zivilbevölkerung in Syrien. Aber was sagt uns der frischgekürte Friedenspreisträger: „Eine Organisation wie der ‚Islamische Staat‘ mit hochgerechnet 30.000 Kämpfern ist für die Weltgemeinschaft nicht unbesiegbar – sie darf es nicht sein.” Er sagt das keine 18 Jahre, nachdem die NATO in ihrem Kampfeinsatz im Kosovo und Serbien etwa 3.500 Menschen tötete und ca. 10.000 verletzte, um den „Hufeisenplan-Völkermord” der kosovarischen Serben zu unterbinden, und während heute russische Bomber in Syrien töten. –
Nein, zum Krieg ruft er nicht auf; er betont zu Recht, dass der Krieg schon da ist.
Aber welchen argumentativen Aufwand treibt er, um uns mitzuteilen, dass „wir”, die westlichen Menschen, Staaten, Mächte mit den Ursachen des syrischen Krieges nichts zu tun hätten!

Dabei ist die Meldung noch frisch, dass die deutschen Rüstungsexporte des ersten Halbjahres 2015 mit 6,35 Mrd. € bereits fast genauso hoch sind wie die des gesamten Jahres 2014 (6,52 Mrd. €), dass sich der Anteil der aus Deutschland exportierten Kriegswaffen von 2013 auf 2014 fast verdoppelt hat, sich der Anteil Deutschlands am globalen Waffenmarkt in den letzten 15 Jahren kontinuierlich gesteigert hat und (nur von Deutschland) allein in die fünf Länder des Krisengebietes Israel, Irak, Türkei, Libanon und Syrien Waffen im Wert von fast 850 Mio. € geliefert wurden. Und Saudi-Arabien, das den „Islamischen Staat” unterstützt, erhielt Waffen im Wert von 209 Mio. €. Ist also Deutschland nicht bereits am Krieg beteiligt – wenigstens als Profiteur?

Aber nein: Es sind ja die Wahhabiten, es sind religiöse Konflikte, und das ist komod. Ein Religionskrieg kann das empfindliche westliche Gewissen ungemein entlasten. So ganz mag die Analyse der revolutionären Bewegung Syriens als Bewegung für Menschenrechte und Demokratie nicht dazu passen. Aber auch damit lassen sich Hintergründe ganz gut verdecken. Denn darum geht es offensichtlich nicht nur bei Herrn Kermani, sondern in nahezu allen Veröffentlichungen, die sich mit dem syrischen Dilemma befassen: Die eigene Verstrickung, „unsere” ursächliche Beteiligung zu vertuschen.

Tatsächlich hat die sogenannte Demokratiebewegung in Syrien angefangen als eine Bewegung gegen die Verarmung größerer Kreise der syrischen Bevölkerung. Die Menschen gingen wegen der Steigerung der Mieten, der Verschlechterung von Gesundheitsversorgung und Bildung auf die Straße.
Wie das Washingtoner Zentrum für Klima und Sicherheit im Februar 2013 analysierte, sind in dem ehemaligen „Fruchtbaren Halbmond”, dem Winterregengebiet, das sich von Israel bis in den Südwesten des Iran erstreckt, in den Jahren 2002 bis 2008 die Grundwasserreserven um die Hälfte zurückgegangen, mussten zwischen 2006 und 2011 die längste Dürreperiode sowie die größten Ernteverluste seit den frühesten Zivilisationen hingenommen werden. Das führte zu einer massiven Landflucht – in Syrien waren 60 % der Landfläche und etwa 1,5 Mio. Menschen von der fortschreitenden Verwüstung des Landes direkt betroffen.2 Der Zustrom irakischer Flüchtlinge nach der US-Invasion ab dem Jahr 2003 verschärfte die Situation zusätzlich, bis 2007 kamen 1,2 Mio. Flüchtlinge. Das Baath-Regime konnte diese Schwierigkeiten nicht mehr bewältigen. Laut der Zeitschrift der US-amerikanischen Akademie der Wissenschaften3 gibt es „allem Anschein nach keine natürliche Ursache. Die beobachtete Trockenheit und Erwärmung passen vielmehr zu Klimamodellen, die die Auswirkungen des Anstiegs von Treibhausgasen zeigen”. Aber damit haben bekanntlich „wir”, die Industriestaaten, nichts zu tun. Und da die Klimaveränderung den Wahhabiten schlecht in die Schuhe zu schieben ist, findet man diese Fakten in Deutschland einzig und allein als Veröffentlichung in der Le monde diplomatique.4

Der von Herrn Kermani zitierte Pater Jacques Mourad spricht von der „... ungerechten Welt, die einen Teil der Verantwortung für die Opfer des Krieges trägt, dieser Welt des Dollars und des Euros, die nur nach ihren eigenen Völkern, ihrem eigenen Wohlstand, ihrer eigenen Sicherheit sieht, während der Rest der Welt hungers stirbt und an Krankheiten und am Krieg. Es scheint, dass ihr einziges Ziel ist, Gegenden zu finden, wo sie Kriege führen und den Handel mit Waffen, mit Flugzeugen noch steigern können.”
Anders als Herr Kermani zielt Pater Jacques Mourad offensichtlich auf „uns”, die reichen westlichen Länder ab. Bisher haben diese Mächte des Dollars und des Euros dort, wo sie eingegriffen haben – wie es Herr Kermani jetzt für Syrien fordert -, Rechtlosigkeit und Armut, Verheerung und Verwüstung, failed states und Flüchtlinge hervorgebracht. Und diese Mächte sollen eine Lösung in Syrien herbeiführen können? – Das Desaster ist doch Folge ihres Handelns!
Der indische Essayist Pankaj Mishra weist in der Herbst-Ausgabe von Lettre International auf die Ähnlichkeiten des Islamischen Staates mit Kambodschas in Frankreich ausgebildeten Roten Khmer hin, „die ebenfalls Tabula rasa mit der Geschichte machen wollten, um mit menschlichem Blut eine neue Geschichte zu schreiben. Es besteht kein Zweifel daran, dass die systematische Verwüstung des Irak durch Amerikaner und Briten – die Ermordung und Vertreibung von Millionen von Menschen nach mehr als zehn Jahren brutaler Sanktionen und Embargos – die Basis für den Islamischen Staat gelegt hat.”

Der US-amerikanische Großinvestor Warren Buffett beantwortete die Frage nach dem zentralen Konflikt unserer Zeit in einem Interview mit der New York Times am 26. November 2006: „Es ist ein Krieg der Klassen. Und es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die diesen Krieg führt, und wir werden ihn gewinnen.”5

Es ist an der Zeit, die Beschönigungen und Verwirrungen beiseite zu schieben. Religionen waren niemals und nirgends Ursachen von Krieg, - sie werden aber immer wieder dazu verwendet, den Krieg zu rechtfertigen. Und ist nicht auch die Inszenierung eines Gemeinschaftserlebnisses mit gemeinsamem Gebet in der Paulskirche ein solcher Versuch?
Genauso wie Herr Kermani bin ich entsetzt über die Vorgänge in Syrien. Die militärische Bekämpfung des Islamischen Staates von außen halte ich jedoch für einen Irrweg. Es ist die Logik des Krieges, die immer wieder Krieg erzeugt, die so lange schon jede Lösung im Nahen Osten verhindert.
Wer versucht, die Problematik in der Region mit religiösen Begriffen zu fassen, landet in Denkmustern, die der Komplexität der politischen und ökonomischen Situation nicht gewachsen sind. Es sind dies Denkmuster der Heiligung und der Verteufelung.
Und die religiösen Denkmuster führen zu falschen Konfrontationen. Nach dem Anschlag des 11. September hat die indische Schriftstellerin Arundhati Roy in einigen überaus klugen und viel beachteten Essays auf die Ähnlichkeit der terroristischen al-Qaida mit dem Handeln der amerikanischen Supermacht hingewiesen: „Inzwischen werden sich die beiden auch in der Sprache immer ähnlicher. Jeder bezeichnet den anderen als ‚Kopf der Schlange‘. Beide berufen sich auf Gott und greifen gern auf die Erlösungsrhetorik von Gut und Böse zurück. Beide sind in eindeutige politische Verbrechen verstrickt. Beide sind gefährlich bewaffnet - der eine mit dem nuklearen Arsenal des obszön Mächtigen, der andere mit der glühenden, zerstörerischen Macht des absolut Hoffnungslosen. Feuerball und Eispickel. Keule und Axt. Man sollte nur nicht vergessen, daß der eine so wenig akzeptabel ist wie der andere.”6 Die gleiche Ähnlichkeit sehe ich bei dem Handeln unserer Regierungen und des Islamischen Staates.
Um Lösungen näher zu kommen und Mordbrennerei zu verhindern, wäre es ein Anfang, wenn die Mächte außerhalb Syriens auf der Basis einer sachlich fundierten, selbstkritischen Analyse, ihre Verstrickung und Beteiligung am Konflikt wahrnähmen und beendeten, und wenn sie dazu bereit wären, das eigene politische und ökonomische Handeln auf andere Ziele als auf die Bereicherung einiger Weniger auszurichten.
Wenn Schriftsteller, wenn Künstler sich mit der Macht verbinden – egal welcher Seite –, dann wird ihre Mitteilung wertlos. Die Position des Schriftstellers, des Künstlers kann nur „Dazwischen” sein, wie Arundhati Roy formuliert hat: „Die Menschen auf der Welt müssen nicht zwischen den Taliban und der US-Regierung wählen. Alles Schöne der menschlichen Zivilisation - unsere bildende Kunst, unsere Musik, unsere Literatur - befindet sich jenseits dieser beiden fundamentalistischen, ideologischen Pole.”7 Und man möchte hinzufügen: Dasselbe gilt auch für die poetischen, philosophischen und historischen Äußerungen des Islam.

Frankfurt, 25. Oktober 2015
Friedemann Schmidt-Mechau


Anmerkungen

↑ 1 Die vollständige Rede Navid Kermanis ist hier online zu finden, außerdem hier als pdf herunterzuladen.
↑ 2 Syria: Drought driving farmers to the cities, Irin News vom 2.9.2009. hier online
↑ 3 Colin P. Kelleya, Shahrzad Mohtadib, Mark A. Canec, Richard Seagerc, and Yochanan Kushnirc: Climate change in the Fertile Crescent and implications of the recent Syrian drought. in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America vom 2. März 2015. hier online
↑ 4 Agnłs Sinai: Verwüstung - Wie der Klimawandel Konflikte anheizt, Le monde diplomatique vom 10.09.2015, übersetzt von Sabine Jainski. hier online
↑ 5 In Class Warfare, Guess Which Class Is Winning. Interview mit Warren E. Buffett, von Ben Stein. New York Times vom 26.11.2006. hier online
↑ 6 Arundhati Roy: Terror ist nur ein Symptom, Frankfurter Allgemeine, 28. September 2001. hier online
↑ 7 Der Spiegel, 31. Oktober. 2001. hier online