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Spahlingers Konstruktionen
Einige Einwände zu Mathias Spahlingers „thesen zu ‘schwindel der
wirklichkeit‚“1
Äußert sich Mathias Spahlinger in einem seiner seltenen Texte, so kann man sicher sein, beziehungsreiche und tiefgehende
Denkanstöße zu finden, die einen nachhaltig beschäftigen. Dies gilt auch für den Aufsatz aus den MusikTexten
142,2 den „thesen zu ‘schwindel der
wirklichkeit‚“.
Diesesmal weckt allerdings einiges davon meinen Widerspruchsgeist.
Realität und Wirklichkeit
Spahlinger eröffnet seine Thesen mit der Unterscheidung von Realität und Wirklichkeit: „von wirklichkeit kann gesprochen
werden, weil und insofern wir an deren konstituierung beteiligt sind. unsere vorstellungen von wirklichkeit wirken auf die wirklichkeit.“
Berücksichtigt man, dass das „wir“ in dieser Formulierung verbirgt, dass unterschiedliche gesellschaftliche Positionen
auch unterschiedliche Wirklichkeiten konstituieren, so kann ich dem Gedanken zustimmen. Auch die folgende Beschreibung der semantischen Relation
scheint mir sinnvoll, die nach Karl Bühler und Bruno Liebrucks statt einer einfachen „Subjekt-Objekt-Beziehung“ eine
„Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung“ vorschlägt. Gemeint ist damit, dass jede Mitteilung zweierlei enthält: Aussagen
über ein Objekt und Aussagen über das sprechende Subjekt, seine Sprache und damit auch über seine gesellschaftliche Position.
In beiden Fällen ist das wahrnehmende Subjekt aktiv und gestaltend.
In seiner ersten These trennt Spahlinger jedoch die Aktivität des wahrnehmenden Subjekts von der Konstituierung der Wirklichkeit ab.
Plötzlich ist es nicht mehr der hörende oder produzierende Mensch, sondern die „traditionelle musik“, welche
Wirklichkeit konstituiert, „indem sie ein system von selektiver wahrnehmung und auslegung ausbildet“. Er setzt also den
beobachteten Gegenstand an die Stelle des beobachtenden Subjekts. Damit wird der Mensch zum passiv leidenden Objekt einer Musik, die ihm
gegenübertritt und seine Wahrnehmungsorgane bearbeitet. So aber kommt man unversehens auf eine Objekt-Subjekt-Beziehung und die am
Ende des Aufsatzes anvisierte „Entdinglichung“ rückt in weite Ferne. Wenn Karl Marx in dem von Spahlinger
angeführten Abschnitt aus den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ von „den
Sinnen des gesellschaftlichen
Menschen“3 spricht, und davon, dass
„die Bildung
der fünf Sinne [...] eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte“ sei, so spricht er nicht von einem passiven Erleiden,
sondern einer gesellschaftlichen Aktivität. Damit lässt sich die Frage beantworten, woher die Vorstellungen des Menschen stammen,
nämlich aus der sinnlichen, offen wahrnehmenden Tätigkeit in der Gesellschaft, und der Ausbildung der Sinne in der Wahrnehmung.
Selektivität und Exegese stehen da nicht am Anfang, eher Fremdheit und Staunen.
Relativität der Wahrnehmung
Die Auffassung von dem Subjekt, das seine eigene Wirklichkeit konstituiert, ist in verschiedensten Wissenschaftsbereichen etwa im Laufe
der letzten 200 Jahre zum Allgemeingut geworden, während gleichzeitig die Vorstellung, diese konstruierte Wirklichkeit ließe
sich objektivieren, immer ungewisser wurde.
Stand am Anfang dieses weltgeschichtlichen Prozesses vielleicht noch die Vorstellung, der Mensch könne ein universales Verständnis
erreichen, womit sich alle Erscheinungen und Fragen konsistent erklären ließen, so wandelte sich diese Vorstellung etwa mit
dem Ausgang des 18. Jahrhunderts.
Dieser Wandlung liegt eine veränderte Auffassung von Vernunft und Subjekt zugrunde. Die Möglichkeiten der menschlichen Sinne
und ihrer Ordnungen werden als begrenzt erkannt. „Ordnungen, die etwas so in Erscheinung
treten lassen und nicht anders, erweisen sich als selektiv und exklusiv, sie ermöglichen etwas,
indem sie zugleich anderes verunmöglichen.“4 Parallel
dazu ist die Eindeutigkeit menschlicher Wahrnehmung in Frage gestellt.
Vor allem mit der Formulierung der Heisenbergschen Unschärferelation und der Relativitätstheorie wird in den Naturwissenschaften
der Einfluss der Wahrnehmung auf experimentale Ergebnisse erkannt, und Max Planck formuliert: „1. Es gibt eine reale Welt, die
unabhängig von unserem Akt des Erkennens existiert. 2. Die reale Außenwelt ist nicht unmittelbar
erkennbar.“5
Lynn Segal vertieft das noch: „Wenn die Voreingenommenheit des Experimentierenden ausreichend kontrolliert wird, liefern die
Sinne objektive Daten über eine reale Welt. Diese Einstellung trägt jedoch nicht, wenn man sich mit dem Prozess der Wahrnehmung
selbst beschäftigt.“6
Mit der besonderen Rolle der menschlichen Wahrnehmung befasst sich auch die Psychologie. Jean Piaget definiert eine „sensomotorische
Intelligenz“; diese erfordere „das Herstellen von Beziehungen, Übereinstimmungen, und die Klassifikation von Schemata
in Strukturen des Ordnens und Zusammenstellens, die eine Teilstruktur für zukünftige gedankliche Operationen herausbilden.“
Sie organisiere „die Wirklichkeit, indem sie umfassende Kategorien des Handelns konstruiert, nämlich die Schemata der
Gegenstandspermanenz, Raum, Zeit und Kausalität ...“7
Unsere Denkstrukturen sorgen zusätzlich dafür, dass das Konstruieren selbst im Verborgenen bleibt. „Wenn einmal ein Begriff
konstruiert ist, wird er sogleich objektiviert, so dass das Subjekt ihn als eine wahrnehmungsmäßige Eigenschaft des Objekts
betrachtet, unabhängig vom Denken des Subjekts. Die Tendenz geistiger Aktivitäten, automatisch zu werden, und die Tatsache, dass
ihre Ergebnisse als dem Subjekt äußerlich empfunden werden, führen zu der Überzeugung, dass es eine Wirklichkeit gibt,
die unabhängig vom Denken existiert.“8
Wenn Spahlinger formuliert: „unsere vorstellungen von wirklichkeit wirken auf die wirklichkeit“, so beschreibt er damit
die Konstruktionen, Strukturen, Ordnungen und Beziehungen, die sich der wahrnehmende Mensch in der
Wahrnehmung und für die Wahrnehmung schafft. Und so wie jede Kommunikation beides enthält,
die Verständigung über ein Objekt und über ein Subjekt, das spricht, so wird in jeder Beobachtung eines Objekts auch die
Wahrnehmung und das wahrnehmende Subjekt selbst zum Gegenstand. Die Beobachtung der eigenen Wahrnehmung rückt um so mehr in den
Vordergrund, je fraglicher das Gelingen der Kommunikation ist - eine Rückbezüglichkeit, die das Modell der
Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehungen noch nicht fasst. Aber es ist auf jeden Fall nicht
der betrachtete Gegenstand, der diese Konstruktionen hervorbringt.
Spahlingers These, das beobachtete Objekt (die Musik) konstituiere Wirklichkeit, zeitigt in seinen Thesen einige Folgen, von denen ich
einige für mich besonders fragwürdige im Weiteren abhandeln möchte.
Adäquate Wahrnehmung?
Spahlinger fährt fort: „nur das gebildete musikalische (tonale) bewusstsein nimmt die tonale musik in ihrem
kulturellen zusammenhang adäquat wahr.“ Auf Spahlingers Abgrenzung traditioneller von neuer Musik gehe ich
unten noch genauer ein. Lässt sich aber sagen, dass musikalisch (tonal) ungebildete Menschen traditionelle (tonale)
Musik, die sie (vielfach) hören, nicht „adäquat“ wahrnehmen? Kann es nach den obigen
Überlegungen über Wahrnehmung überhaupt so etwas wie Adäquanz geben? Entspricht die Forderung nach
Adäquanz nicht einer „realität unabhängig vom bewußtsein“, von der Spahlinger
fragt, ob davon „sinnvoll gesprochen werden kann“.
Sicher wird traditionelle Musik nicht in ihrem ursprünglichen kulturellen Zusammenhang wahrgenommen, und es stellt
sich die Frage, ob dies überhaupt möglich ist. Denn was wäre hierfür notwendig? Reicht die Kenntnis
der Harmonie- und Formenlehre und des tonalen Systems, um einem kulturellen Zusammenhang, sagen wir des 18. Jahrhunderts,
in der Wahrnehmung „adäquat“ gerecht zu werden (zumal wenn man vorher Spahlingers
„Vier Stücke“ gehört hat)? Und ist die Frage nicht ohnehin müßig, da wir doch schlicht
nicht wissen und höchstens mutmaßen können, wie die Menschen des 18. Jahrhunderts die Musik ihrer Zeit
wahrgenommen haben? (Vielleicht ein Gegenstand subtiler Musikwissenschaft und Versuchsanordnung für eine historische
Aufführungspraxis, aber sicher beides kein Rezept, um sich in vergangene Zusammenhänge zu versetzen!)
Käme es denn darauf überhaupt an? Sollten wir nicht viel eher mit Walter Benjamin sagen: „Vergangenes
historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ‚wie es denn eigentlich gewesen ist‘. Es heißt, sich einer
Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. [...] Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der
Tradition wie ihren Empfängern. Für beide ist sie ein und dieselbe: sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse
herzugeben. In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen,
der im Begriff steht, sie zu
überwältigen.“9
Mit anderen Worten: Es geht darum, sich die Tradition immer wieder und mit heutigen Fragestellungen neu zu erschließen
und erneut anzueignen, sonst geht sie für die aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen verloren und würde
dann - wie es in unserer Gegenwart häufig der Fall ist - zum Instrument für die Bewahrung der Konvention und
Herrschaft werden.
Ich hatte in den Jahren 2008 - 2013 das große Vergnügen, das Projekt
Bach.heute10
des Cellisten Matthias Lorenz aus Dresden als Veranstalter zu begleiten.
Er hat Jahr für Jahr einer der Bach’schen Cello-Suiten drei oder vier Werke neuer Musik an die Seite gestellt, deren
Strukturen in irgendeiner Weise mit denen der Bach’schen Suite verbunden waren. Die Hörer dieser Konzerte haben die
Bach-Stücke natürlich nicht in ihrem ursprünglichen kulturellen Zusammenhang gehört, und die tonalen
Zusammenhänge haben eine eher untergeordnete Rolle gespielt. Haben sie deswegen die Bach’sche Musik weniger
„adäquat“ wahrgenommen?
Abgrenzung „traditioneller“ von „neuer“ Musik
In seiner zweiten These definiert Spahlinger, was er unter „traditioneller Musik“ versteht. Er zieht
eine zeitliche Grenze, „zirka 1910“, und er fasst unter den Begriff „traditionell“
die Musiken aller Völker, aller Kulturen und Zeiten. Ob das heißen soll, dass alle Musik, die nach 1910
produziert wurde, „neue Musik“ sei, bleibt offen.
Während sich seit langer Zeit Künstler aller Sparten mit anderen Kulturen auseinandersetzen und sich damit neue
Denkweisen erschließen, während gleichzeitig eine interkulturelle
Philosophie11
entsteht, die den Dialog sucht, weil offenbar geworden ist, dass sich
die Konstruktionen von Wirklichkeit in den verschiedenen Kulturen grundlegend unterscheiden, will Spahlinger dieses ganze
Riesengebiet über einen womöglich dur-moll-tonalen Kamm scheren? Waren es nicht außereuropäische
Tonsysteme, die in der neuen Musik die Beschäftigung mit mikrotonalen Strukturen erst angeregt haben - von Alois
Hába bis Klaus Huber? Hat nicht das Denken in Rhythmen, wie in größeren Teilen Afrikas, in der Karibik oder
in Japan, Eingang gefunden in westliche Komposition - wie die von ihm zitierte Polyrhythmik Nicolaus A. Hubers? Und ist
dieser Vielfalt von Musikkulturen wirklich der Bezug auf ein Tonsystem
gemeinsam? Und selbst wenn man eingestehen mag, dass es unterschiedliche Ton- und Musiksysteme gibt, unterscheiden sich
diese Musikkulturen nicht auch gerade in Hinblick auf das Gewicht von „Systemen“ überhaupt?
Solche Grenzziehung ignoriert Entwicklungswege völlig - auch in der europäischen Musikgeschichte hat niemand
die Atonalität aus dem Hut gezogen - und so verflüchtigt sich nach der „entdinglichung“
nun auch der geforderte „geschichts-materialismus“. Dies ist eine Folge der ersten These Spahlingers:
Der Mensch als passive Figur, die ihre Geschichte erleidet, nicht in der Lage, sich zum Subjekt dieser Geschichte zu
machen, unfähig zur Gestaltung, ja selbst zur Kritik.
Vor einer solchen Auffassung hat bereits Walter Benjamin gewarnt: „Der Fortschrittsbegriff mußte von dem
Augenblick an der kritischen Theorie der Geschichte zuwiderlaufen, da er nicht mehr als Maßstab an bestimmte
historische Veränderungen herangebracht wurde, sondern die Spannung zwischen einem legendären Anfang und einem
legendären Ende der Geschichte ermessen sollte. Mit andern Worten: sobald der Fortschritt zur Signatur des
Geschichtsverlaufes im ganzen wird, tritt der Begriff von ihm im Zusammenhange
einer unkritischen Hypostatierung statt in dem einer kritischen Fragestellung
auf.“12
Genau dahin aber kommt Spahlinger mit der scharfen Trennung zwischen traditioneller und neuer Musik. Historische
Beziehungen werden zerschnitten und in antagonistische, „legendäre“ Positionen gebracht.
Den Vorwurf, er und die neue Musik handle nicht mit „geistfähigem material“, wendet er hier
gegen die Tradition, anstatt den ewig-gestrigen Bewahrern der Überlieferung zu sagen, dass ihnen gerade auch
für die traditionelle Musik der Geist fehlt.
Tradition und Tonalität
Die Konstruktion von Wirklichkeit schränkt Spahlinger bezüglich „traditioneller Musik“ noch
weiter ein, wenn er in seiner dritten These ausführt: „die traditionelle musik [hat] die frage gestellt,
was klingt in bezug auf das system“ und dann erläutert, dies sei „bereits die frage nach der
wirklichkeit des klingenden. sie setzt die konstituierung von wirklichkeit durch das tonale system voraus“.
Hier wird die Konstruktion von Wirklichkeit auf eine einzige Spur gesetzt. Die Tonalität ist das System, welches
Wirklichkeit konstituiert. Sie ist nicht etwa (wie man meinen könnte) ein
Element, das der Wahrnehmung des Rezipienten als Ordnungsschema unter anderen Elementen zur Verfügung stehen kann.
Keine Rede von Melodik, von Gestalt und Figur, keine von Prosodie und Metrik, keine von Rhythmus, Tempo, Zeitstruktur,
keine von Polyphonie und Kontrapunktik, von Verdichtung und Transparenz, keine von Architektur und Form - einzig die
Beziehung des „a“ zu d-Moll oder C-Dur soll uns zur Verfügung stehen? - als ob mit einer so reduzierten
Wahrnehmung überhaupt etwas von der in Rede stehenden Musik zu fassen wäre.
In seinem wunderbaren Aufsatz zu Nonos Streichquartett „Fragmente - Stille, An Diotima“ ist Heinz-Klaus
Metzger in einer Anmerkung zum Thema Analyse gegen solche verkürzten Auffassungen zu Felde gezogen und hat seinen
Anspruch auf eine nicht-reduktive Analyse formuliert: „... nicht-reduktiv [meint] hingegen, daß die Analyse
zumindest ein feineres kategoriales Raster als das, welches der zu analysierenden Komposition selbst zugrunde liegt,
generieren muß: einzig empfindlichere Systeme vermögen bekanntlich gröbere zu erkennen, zu
‚analysieren‘ - und zu
kritisieren.“13
Die Wahrnehmung traditioneller Musik auf ein einziges Merkmal, die Tonalität, zu beschränken und die
„Adäquanz“ der Wahrnehmung auf die Frage zu reduzieren, ob dieses eine Merkmal konstitutiv
für die konstruierte Wirklichkeit ist, halte ich für ungenügend.
Eine seltsame Umkehrung findet statt, wenn Spahlinger der traditionellen Musik eine Konstituierung durch ein System
unterstellt, während er gleichzeitig von der neuen Musik sagt, sie arbeite ohne präformierte Systeme. Sind
doch erst viele Komponisten der Moderne systematisch mit ihrem Material umgegangen, haben Zwölfton- oder serielle
Systeme entworfen, um dann anhand dieser Systeme zu komponieren, während noch im 19. Jahrhundert die Theoretiker
hinter der Produktion herhinkten und alles Systematische erst nachträglich anhand von Kompositionen formulierten.
Fragen der neuen Musik
Hieß es zunächst in Spahlingers dritter These: „so stellt die neue musik die frage, was klingt in
wirklichkeit“ - eine Formulierung, der man nach der anfänglichen Unterscheidung von Realität und
Wirklichkeit ja durchaus folgen kann -, so formuliert er in der Erläuterung dazu: „die zweite frage,
die so erst die neue musik stellt, ist die frage nach der realität des
klingenden unabhängig vom bewusstsein; sie zeugt von einem defizitären wirklichkeitsverständnis. sie
unterstellt, wenn wir von jeglicher kategorialen wahrnehmung absehen könnten, bliebe der klang selbst übrig,
wie er in wirklichkeit klingt.“
(Ist hier jetzt der „klang [...], wie er in wirklichkeit klingt“ dasselbe wie die
„realität des klingenden“? - Waren die Begriffe „Realität“ und
„Wirklichkeit“ nicht deutlich unterschieden? Hatte Spahlinger selbst nicht formuliert:
„hier kann nicht abgehandelt werden, ob von realität unabhängig vom bewusstsein (was immer das
sein soll) sinnvoll gesprochen werden kann. wer so spricht, soll sagen, wovon er spricht.“?)
Nachdem einmal die historischen Fäden gekappt, alle historisch gewachsenen Kategorien eliminiert, nachdem
außerdem die Hörer und Produzenten entmachtet und die Bildung von Kategorien der „musik“
überantwortet sind, stellt Spahlinger nun fest, das eine solche Sichtweise von einem defizitären
Wirklichkeitsverständnis geprägt sei. Ich kann dem nur zustimmen. Aber: Angesichts der Entgrenzung des
Begriffs „neue Musik“ und der Vielfalt, die unter diesem Begriff subsumiert wird, wüsste
man doch gerne etwas genauer, auf wen er sich damit bezieht, wünscht man sich doch einfach etwas Butter bei
die Fische und Ross und Reiter benannt!
Wer in seinem Streichquartett Arbeiterlieder zitiert - wie Spahlinger das in „apo do“ tut -
sucht doch nicht nach einer wie immer gearteten vom Bewusstsein unabhängigen Realität des Klangs,
für die es keine Kategorien gibt! Das Problem, das hinter all diesen Überlegungen steckt, scheint
mir andersherum nicht in der Ungewissheit der Wahrnehmung von neuer
Musik, sondern in der konformistischen Gewissheit der Wahrnehmung
traditioneller Musik zu liegen - und hier meine ich nicht die Totale, die Spahlinger benennt, sondern das
schmale Repertoire, das unsere Kulturinstitutionen und Rundfunkanstalten uns zumuten. Es geht um die Haltung
der satten Mittelschichtskulturkonsumenten, die offene Fragen, Ungewissheit und den unverdeckten Blick auf die
eigene Rolle in der gesellschaftlichen Wirklichkeit scheuen.
Für einen klareren Blick auf die Wirksamkeit der Kategorien in der Wahrnehmung - seien sie allgemein
formuliert oder subjektiv erfühlt - scheint mir der Gedankenkomplex von Edmund Husserl um seinen Begriff
einer Intentionalität sehr viel fruchtbarer. Vor allem schließt er die Möglichkeit des
Nicht-Verstehens, des Verkennens und Nicht-Gelingens in den Wahrnehmungsvorgang mit ein. Die intentionale
Analyse ist eine Haltung, die dem wahrgenommenen Objekt einen
Sinn14 „zumutet“:
„Ihre überall eigentümliche Leistung ist die Enthüllung der in den
Bewußtseinsaktualitäten implizierten
Potentialitäten, wodurch sich in noematischer Hinsicht
Auslegung, Verdeutlichung und evtl. Klärung
des bewußtseinsmäßig Vermeinten, des gegenständlichen Sinnes vollzieht.
“15 Die Beziehung
zwischen Subjekt und Objekt erschöpft sich nicht mehr einfach in der Gegenwärtigkeit und
einem vorausgesetzten Kategorien-System, sondern trägt zahllose implizite Horizonte in sich und
verbindet diese im Wahrnehmungsvorgang. „Das Sein wird nicht mehr als dem Denken korrelativ
gesetzt, sondern als Grund des Denkens selbst, durch welches das Sein allererst konstituiert wird.
“16 Damit ist die
Erkenntnis verbunden, dass beispielsweise eine Abgrenzung verschiedener Stile voneinander von dem
potentiellen Denk-Repertoire des Einzelnen abhängt. Neuheit muss immer auch als subjektive
Kategorie betrachtet werden. Und: „Weil sich die Synthese der sinnlichen Wahrnehmung
niemals vollendet, ist die Existenz der äußeren Welt relativ und
ungewiss.“17
Analog zu dem bereits angeführten Satz von Walter Benjamin: „In jeder Epoche muß versucht werden,
die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu
überwältigen“18,
möchte ich dafür plädieren, den Anspruch auf die Musik mit
ihrer Geschichte nicht aufzugeben, sich nicht abzufinden mit der Gegenwart der traditionellen Musik in
einer Museums-Kultur und einer dagegengesetzten, abgeschiedenen neuen Musik im Elfenbeinturm. Wenn es den
Veranstaltern, Musikern und Komponisten neuer Musik nicht gelingt, Referenzen in die Lebenswirklichkeit und
in die Tradition hinein zu bilden, die die traditionelle Musik neu beleuchten, ihre Wahrnehmung der
Gewohnheit entreißen und sie für die aktuelle Gegenwart erneut anzueignen, wird auch neue Musik in der
Bedeutungslosigkeit der Isolierung und der Anpassung versinken. Und weist die Heimeligkeit der neuen-Musik-Szene - und danach
klingt Spahlingers kleine Programmheft-Notiz „for musicians
only“19 - nicht vielleicht auch auf Konformismus?
Was ist „wesentlich“, was „unwesentlich“?
Ausgehend von dem behaupteten fundamentalen Unterschied von neuer Musik zu aller anderen beschäftigt sich Spahlinger
in der vierten These mit der Frage, wie Ähnlichkeiten in beiden Bereichen unterschiedlich zu bewerten seien. Hier
rächt sich wieder die Eliminierung des wahrnehmenden Subjekts. Denn überantwortet man diese Frage an die Musik,
bleiben nur so dürftige Kategorien, wie z.B. dass bestimmte Eigenschaften geschichtlich formbildend werden können.
Die Frage aber, ob für eine Variation das Gleichbleibende oder das Verschiedene wesentlich sei, hängt von der
Erfahrung, der Empfindung und dem Temperament des Hörers ab.
Weder gilt für alle traditionellen Variationen-Werke, dass die harmonische Syntax immer gleich bleibt, also nicht
variiert wird, noch lässt sich von neuer Musik behaupten, es gebe nichts Gleiches und nichts Verschiedenes. Für
jeden dieser Fälle lassen sich zuhauf Beispiele finden. Unbestritten ist natürlich, dass im 20. Jahrhundert eine
nicht unerhebliche Anzahl an neuen Variationsebenen erfunden und entwickelt wurden, wie vorher in jeder anderen Zeit auch.
Spahlinger schreibt, dass alle Kontraste durch allmähliche Veränderungen vermittelt werden können. Aber aus
dieser Tatsache zu schließen, es gebe keine, ist schlicht Unsinn. Dass es Grau gibt, verhindert nicht den Kontrast
zwischen Schwarz und Weiß.
Lügen der Zeit
Ich bin weit entfernt davon, das umfangreiche Werk Bruno Liebrucks zu überblicken oder einschätzen zu können.
Doch soviel ist relativ schnell zu erkennen: Liebrucks ist von seiner eigenen Verstrickung in die Hitlerei geprägt und
ihn entsetzt der Kalte Krieg, den er als Fortsetzung einer imperialistischen Politik einschätzt. Wenn er die
„Unwahrheit der Zeit“ benennt, dann sind das bei ihm konkrete politische Zusammenhänge.
Es scheint mir abwegig, in diese Formel Teile der Musikgeschichte einfügen zu wollen. Dass Mathias Spahlinger damit
seine eigenen Zielsetzungen eines „geschichts-materialismus der entdinglichung“ unterminiert, scheint
ihm zu entgehen. Soweit ich seine Musik kenne, finde ich nichts von diesen Konstruktionen darin wieder.
In der Auseinandersetzung mit einer Art der Kunstwahrnehmung, die immer schon alles weiß und keine Fragen mehr
aufwerfen mag, geht es meines Erachtens immer um die ganze Musikgeschichte.
So wie Menschen ihr eigenes Selbst erst anhand von Fremdem ausbilden, so muss jeder Sinneseindruck, jede Wahrnehmung, jeder
Gedanke immer wieder neu untersucht, gewogen und angeeignet werden. Die Herrschenden in unserer gegenwärtigen Welt
müssen so etwas fürchten, weil sich dies gegen sie wenden wird. Deswegen fürchten sie Relativität und
Ungewissheit, und um dem zu entgehen, neigen sie dazu, diesen Untersuchungs- und Neuaneignungsprozess zu überspringen,
und zu ersetzen „durch einen Besitz, der jeder Inbesitznahme entrückt ist, als sei das Haben ein Akzidenz des
Seins“.20
Eine Antwort auf die Ausgangsfrage des Projektes „Schwindel der Wirklichkeit“, wie sich aktuelle Kunst in den
gesellschaftlichen, politischen Raum einmischen kann, hat Walter Benjamin gegeben, wenn er in seinem Text „Über
den Begriff der Geschichte“ von dem Kampf um die rohen und materiellen Dinge spricht, „ohne die es keine
feinen und spirituellen Dinge gibt. Trotzdem sind diese letztern im Klassenkampf anders zugegen denn als die Vorstellung
einer Beute, die an den Sieger fällt. Sie sind als Zuversicht, als Mut, als Humor, als List, als Unentwegtheit in
diesem Kampf lebendig und sie wirken in die Ferne der Zeit zurück. Sie werden immer von neuem jeden Sieg, der den
Herrschenden jemals zugefallen ist, in Frage
stellen.“21
↑ 1 Eine Kurzfassung dieses Textes ist abgedruckt
in MusikTexte Heft 145, Köln: Mai 2015, S. 91f. Diese Langfassung kann
→ hier als pdf heruntergeladen werden.
↑ 2 Köln: August 2014, S. 15-17. Außerdem
→ hier als pdf herunterzuladen.
↑ 3 Hervorhebungen folgen in allen Zitaten
den jeweilig zitierten Ausgaben.
↑ 4 Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 19992, S. 10
↑ 5 Max Planck: Where Is Sience Going. New York
1932, S. 82. zit. n. Lynn Segal: Das 18. Kamel oder Die Welt als Erfindung. Piper, München 1988, S. 43
↑ 6 Lynn Segal: Das 18. Kamel oder Die Welt als
Erfindung. Piper, München 1988, S. 48
↑ 7 Jean Piaget und Bärbel Inhelder: The
Psychology of the Child. New York 1969, S. 13. zit. n. Segal: a.a.O., S. 55
↑ 8 David Elkind (Hrsg.): Six Psychological
Studies by Jean Piaget. New York 1958, xi-xii. zit. n. Segal: a.a.O., S. 55f.
↑ 9 Walter Benjamin: Über den Begriff der
Geschichte. in: Gesammelte Schriften, Band I,2. Frankfurt: Suhrkamp 1991, S. 695
↑ 10 Einzelheiten über Matthias Lorenz‘
Projekt Bach.heute sind zu finden unter: http://matlorenz.de/Bachheute.htm
↑ 11 Zur Einführung empfehle ich das
Bändchen von Heinz Kimmerle: Interkulturelle Philosophie zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag 2002
↑ 12 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk -
Aufzeichnungen und Materialien. Erkenntnistheoretisches, Theorie des Fortschritts. Hrsg. v. Rolf Tiedemann,
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, [N 13,1] S.598f.
↑ 13 Heinz-Klaus Metzger: Wendepunkt Quartett?
in: Luigi Nono, Musik-Konzepte. München: edition text + kritik, 1981; Heft 20, S. 96, Anm. 4
↑ 14 Er verhält sich damit auch auf die von
Spahlinger so häufig aufgeworfene Frage, was denn Musik sei und was nicht. Nach Husserl ist das immanent
nicht zu beantworten, es hängt ausschließlich von der Haltung des Hörers ab, ob er das Gehörte
zur Musik rechnet oder nicht. Und es kann neuer Musik genausogut wie traditioneller passieren, dass sie nicht als
Musik erkannt wird.
↑ 15 Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen und
Pariser Vorträge S. 83f. zit. nach: Emmanuel Lévinas: Die Spur des Anderen, hrsg. und übers. v. Nikolaus
Krewani. Freiburg i.B., München: Alber 1998, S. 128
↑ 16 Emmanuel Lévinas: Die Spur des Anderen, hrsg.
und übers. v. Nikolaus Krewani. Freiburg i.B., München: Alber 1998, S. 130
↑ 17 Lévinas: a.a.O., S. 54
↑ 18 siehe Anm. 8
↑ 19 ebenfalls abgedruckt in Musiktexte 142,
a.a.O., S. 14
↑ 20 Waldenfels: a.a.O., S. 193
↑ 21 Benjamin: Über den Begriff der
Geschichte. a.a.O., S. 694
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