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Einführung
Das Stück ist meinem Lehrer Prof. Gustavo Becerra-Schmidt gewidmet und wurde bei einem Festkonzert zu seinem 65. Geburtstag uraufgeführt.
Die kleine Ansprache vor der Uraufführung sei hier mitgeteilt:
Lieber Gustavo!
Als ich vor jetzt ziemlich genau vier Jahren Dich kennenlernte und bei Dir meine erste Prüfung, die Zulassungsprüfung für Nichtabiturienten
ablegte, Dir dabei meine kleinen Studien über ein Chopin-Prelude vorspielte und eigentlich nicht genau wußte, wohin ich wollte, nur, daß ich
der Mühle des Tischler-Daseins entkommen wollte, - und lernen! -, da sagtest Du, ich sei doch ein Komponist und mit 32 wüßte man schon, was
man wolle.
Das war eine der wenigen Gelegenheiten, wo ich mir nicht ganz sicher war, ob Du recht hast.
Viel habe ich mir inzwischen bei Dir abgeholt und das Komponieren hat mich zunehmend mehr gefesselt. Vielleicht heißt das Stück, das gleich
erklingen soll, deshalb Ein Hirngespinst?, denn was ist Komponieren, was ist Musik anderes, als das Produzieren von Hirngespinsten?
Doch es gibt noch eine andere Verbindung:
Als 1971 die Generäle in Chile putschten, hieß das für Dich Exil, Du konntest nicht mehr nach Hause. Ich handelte mir damals, als 16-jähriger
Lehrling nach einer Chile-Demonstration mein erstes politisches Verfahren ein.
Schon wegen des Wissens um diese Verbindung faszinierte mich Dein Denken, - ein Denken, das ererbte, wie selbstgebastelte Mythologien untersucht,
untergräbt und das nach der durchschauenden Entfernung von ideologischen oder esoterischen Verkleisterungen die soziale Situation der Menschen
findet - und sich dort verbindet mit der Idee von einem besseren Zusammenleben.
Ein Stück von diesem skeptischen, zweifelnden und trotzdem utopischen Denken habe ich in dem Text von Adam Ważyk, einem polnischen Dichter,
wiedergefunden: Skepsis, Distanzierung von all den Unwahrheiten, die uns herrschende Ideologen weismachen wollen, und trotzdem, oder gerade
deswegen an den eigenen Träumen, Utopien, an den eigenen Hirngespinsten festhalten.
Mein Hirngespinst für Dich knüpft eine weitere Verbindung: Deine 1. Sinfonie, die Du in meinem Geburtsjahr geschrieben hast, hat - so hast
Du einmal in einem Seminar verraten - ein unausgesprochenes Programm, Du stellst darin die Frage nach der eigenen Identität. Deshalb bestimmt
die Zwölfton-Reihe Deiner 1. Sinfonie in meinem Hirngespinst sowohl die Anordnung der Tonhöhen, als auch die formale Anlage.
Diese Zwölfton-Reihe aus Gustavo Becerra-Schmidts 1. Symphonie (1955) durchläuft in den einzelnen Instrumenten - und die Singstimme
wird hier ganz als Instrument behandelt - als einstimmige Linie im Verlauf des Stückes ein einziges Mal, fächert sich allerdings zwischen ihnen bis zur Achttönigkeit auf. Im Laufe des Stückes treten andere Ebenen in den Vordergrund: Die Differenzierungen von Helligkeiten, Timbre, verschiedene Formen von Vibrato und Intonationsnuancen werden zu eigener Gestalt mit jeweils eigener Energie geführt. Dabei ist die Musik immer wieder durch Abbrüche, Generalpausen, Neuansätze gebrochen. Kontinuität kommt nicht auf. Auf dem letzten Ton der Reihe erscheint ein insistierendes, gleichmäßiges Metrum nur noch differenziert durch unterschiedliche Oktavlagen und Instrument-Zusammenstellungen, zu dem Vorschläge treten, die ein weiteres Mal die Reihe abbilden.
Mit zunehmender Distanz bezieht sich die Musik auf den segmentiert gesprochenen Text des polnischen Autors Adam Ważyk. Dieser Text spiegelt nach meiner Auffassung die Befindlichkeit des desillusionierten Menschen nach dem Ende des Sozialismus wieder, dessen Träume zerschlagen, dessen Lügen
zutage getreten, dessen irrationale Züge sich eben gerade als Illusionen erwiesen haben, und der nun herausfindet, daß - bei allem Bedürfnis nach
Ratio - ohne Träume, ohne Utopien, ohne Hirngespinste der Mensch nicht leben kann. Die Suche geht also weiter.
1994 habe ich das Stück überarbeitet, dabei wurden die klanglichen Differenzierungen deutlich zugespitzt.
Text
Du kannst mir nicht weismachen, mein Lieber,
daß der Löwe ein Lamm sei.
Du kannst mir nicht weismachen,
daß das Lamm ein Löwe sei.
Ich glaube nicht an magische Beschwörungen,
glaube nicht an keimfreien Verstand.
Aber ich glaube, daß der Tisch nur vier Beine hat.
Und ich glaube, daß das fünfte Bein ein Hirngespinst ist.
Und wenn die Hirngespinste verfliegen, mein Lieber,
dann stirbt der Mensch an seinem kranken Herzen.
von Adam Ważyk
Hier auch das polnische Original:
Nie uwierzę, mój drogi, że lew jest jagnięciem,
Nie uwierzę, mój drogi, że jagnię jest lwem!
Nie uwierzę, mój drogi, w magiczne zaklęcie,
nie uwierzę w rozumy trzymane pod szkłem,
ale wierzę, że stół ma tylko cztery nogi,
ale wierzę, że piąta noga to chimera,
a kiedy się chimery zlatują, mój drogi,
wtedy człowiek powoli na serce umiera.
Aufführungen
Uraufführung:
30. November 1990: Jubiläumskonzert zum Fünfundsechzigsten Geburtstag für Gustavo Becerra-Schmidt,
Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg;
→ oh ton-Ensemble:
→ Gunther Nickel - Spr,
→ Ulrike Janssen - Sopr,
→ Burkhard Wild - Fl,
→ Jan-Peter Sonntag - Pos,
→ Eberhard Nehlsen - Git,
→ Axel Fries - Vibr,
→ Eckart Beinke - Klav,
→ Barbara Martyna-Lauerwald - Vl,
→ Ralf Santo - Kb,
Friedemann Schmidt-Mechau - Dir
weitere Aufführungen:
10. Dezember 2010: In Memoriam Gustavo Becerra-Schmidt, Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg;
Ensemble:
→ Marlene Achtermann - Spr,
→ Ulrike Janßen - Sopr,
→ Burkhard Wild - Fl,
→ Andreas Lüken - Pos,
→ Eberhard Nehlsen - Git,
→ Axel Fries - Vibr,
→ Werner Barho - Klav,
→ Ulla Levens - Vl,
→ Ralf Santo - Kb,
Friedemann Schmidt-Mechau - Dir
Kritik
Nordwest-Zeitung, Oldenburg vom 4. Dezember 1990
Drei Uraufführungen waren
die Höhepunkte des Programms
Festkonzert für Gustavo Beccera-Schmidt in der Uni
von
→ Christiane Maaß
(...) Ein Hirngespinst für Gustavo war Titel und Widmung zugleich einer kleinen
Phantasie von Friedemann Schmidt-Mechau. Ausgehend von der Zwölfton-Reihe aus der 1. Sinfonie
seines langjährigen Kompositionslehrers nahm Schmidt-Mechau auch das Programm
dieser Sinfonie auf: die Verknüpfung der Frage nach der eigenen Identität mit der nach
der politischen Realität. Das Publikum verfolgte die ausgesprochen plastische Struktur des
Werkes mit äußerster Spannung: den immer wieder gebrochenen und segmentierten Text, das
Herausbilden von musikalischer Gestalt durch rhythmische und polyphone Schichtung der Einzelstimmen,
von denen jede im Verlaufe des gesamten Stückes die Zwölfton-Reihe einmal durchläuft.
Und wenn die Hirngespinste verfliegen, dann stirbt der Mensch an seinem kranken Herzen.
Ein emotionaler Zwischenruf an dieser Stelle bewies, das auch die Aussage des Textes von den
Zuhörern verstanden und nachvollzogen worden ist. Eine erfolgreiche Uraufführung -
besonders dank des Einsatzes eines hervorragenden Ensembles, gebildet aus Mitgliedern des
Vereins zur Förderung aktueller Musik in der Provinz. (...)
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