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*) Die männliche Form impliziert hier immer beide Geschlechter.
Einführung
Die Konzertreihe Bach.heute, in der der Cellist Matthias Lorenz zwischen 2007 und 2013 Bachs Cello-Suiten mit zeitgenössischen Kompositionen kombinierte, basierte auf zwei Grundgedanken:
„1. Jede Bach-Suite hat ein eigenes ‚kompositorisches Thema’, eine Herangehensweise, die alle Sätze untereinander verbindet. Deutlich wird das unter anderem daran, dass man sich - bei aller Offenheit der Form einer Suite - nicht vorstellen könnte, einen Satz zu transponieren und in einer anderen Suite unterzubringen. Sie haben eindeutig einen Zusammenhalt.
2. Wenn man dieses kompositorische Thema allgemeiner formuliert, lassen sich zeitgenössische Stücke finden, die ein ähnliches Thema aufgreifen. Der Blick hin und her durch die Jahrhunderte frischt die Wahrnehmung der alten wie der neuen Stücke auf.“
Meine Komposition Fehlversteck wurde für diese Konzertreihe geschrieben und der Bachschen Suite Nr. 2, d-Moll, BWV 1008 zugeordnet, für die Matthias Lorenz als kompositorisches Thema die Frage „Wann fängt etwas an - wann hört es auf?“ formuliert hat.
Diese Fragestellung resultiert bei der Suite aus Fragen der Phrasierung und der Verknüpfung von Motiven, bei denen häufig das Ende des einen Motivs gleichzeitig der Anfang eines neuen ist.
Diesen Gedanken in vieler Hinsicht auszuweiten und auf verschiedenste Fragen anzuwenden, lag für mich als Ausgangsgedanke nahe. Und da in unserer Gegenwart die Existenz von Musik, ihre Produktion, Entstehung und Wahrnehmung, aber auch ihre Beurteilung in höchstem Maße infrage gestellt – oder vielleicht besser – fragwürdig geworden ist, wollte ich genau diese Bereiche in die Fragestellung einbeziehen und die in der Frage angelegte Beziehung auf die Zeit („Wann …“), aber auch die Begrenzung auf die rein innermusikalischen Fragen überschreiten.
Gegenwärtig ist das Stichwort „Fortschritt“ wieder en vogue, als hätte es nie eine Kritik des Begriffs gegeben. Dem etwas auf den Zahn gefühlt, verdünnt sich das schnell zu „Wachstum“. Eine ganz ähnliche Verkürzung auf das Quantitative ist in den Verfahren der „Evaluation“ oder des „Qualitätsmangements“ zu finden, die inzwischen in immer weiteren Teilen der Gesellschaft und der Produktion um sich greifen. Auch hier verdeckt der qualitative Begriff fast ausschließlich quantitative Kriterien. Mit dieser Reduktion verdampft jedes historische Bewusstsein, wäre ein solches doch eben mit qualitativen Aspekten verknüpft.
Auch in der Kunst ist diese Tendenz festzustellen.
Die Aussage, die serielle Methode sei die einzig verbliebene Möglichkeit, der Musik eine rationale Basis zu verschaffen, stößt möglicherweise gleich in doppelter Hinsicht auf völliges Unverständnis. Ist die serielle Methode inzwischen etwas nahezu unbekanntes, erscheint vielen auch die Suche nach einer rationalen Basis der Musik als eine völlig krude Fragestellung. Ganz ähnliches lässt sich von der Aleatorik sagen. Und auch wenn eine große Zahl musikalischer Produktionen ausgesprochen „zufällig“ klingt, ist ihre Kompositionsweise in aller Regel von der Aleatorik als Methode weit entfernt.
In Fehlversteck verknüpfe ich die beiden kompositorischen Methoden Reihentechnik und Aleatorik, die die Komponisten meiner Elterngeneration in so ausufernden Streit getrieben haben, und produziere daraus mein Grundmaterial, welches das ganze Stück bestimmt. Natürlich werden damit beide Methoden infrage gestellt, gleichzeitig erweisen sie sich als keineswegs so widersprüchlich, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mögen.
Anhand des Datums wird für jede Aufführung eine Zahlenreihe ermittelt und die Formel ist so angelegt, dass über 100 Jahre für jeden Tag ein neue Reihe entsteht. Diese Zahlenreihe bestimmt nun durch die fünf Skizzen je andere Aspekte der Musik und des Musizierens, nach ihr muss der oder die CellistIn das ganze Stück einrichten. Damit wird der Prozess der Komposition bis in die einzelne Aufführung hinein verlängert.
Die Zahlenreihe bestimmt in der 1. und 2. Skizze die Anordnung von Klängen, in der 3. Skizze die Abfolge von Aktionen, in der 4. die Anzahl einer Abfolge von Ereignissen und in der 5. schließlich die Pausen und Intervalle.
In der ersten Skizze sind zwei Gedichte (experientia und Literarische Würdigung s.u.) miteinander verschränkt, von denen eines gesprochen wird, das andere analog zum gedachten Text mit Strichen längs der Saite gespielt wird.
Die zweite Skizze bringt auf dem Cello mit den Fingern klangvoll und leise geklopfte Töne.
Die dritte Skizze enthält 12 Spielposituren des konventionellen Cello-Spiels, die hier nur als Spiel-Haltungen eingenommen werden und für einige Zeit „eingefroren“ werden.
Die vierte Skizze bringt 12 einzelne Pizzicati, die in einem Feld so angeordnet sind, das verschiedene Wege durch das Feld möglich sind. Die Reihe bestimmt jeweils die Anzahl der einzelnen Pizzicati, die aneinander gehängt werden sollen.
In der fünften Skizze wird die Zahlenreihe zunächst nur dazu bestimmt, die Pausendauern zwischen dreizehn rhythmischen Strukturen zu bestimmen. Dann wird die Reihe aber auch als Intervallreihe interpretiert. Jedes Intervall kann auf- oder abwärts verstanden werden. Damit sind sehr viele Reihen möglich. Es soll eine Reihe mit möglichst vielen und eine mit möglichst wenigen Tonhöhen ausgesucht werden, beide mit möglichst kleinem Umfang. Diese Reihen werden als Tonhöhen auf die rhythmischen Strukturen angewandt und mit ganz verschiedenen Spielweisen verbunden.
Texte
experientia
ablegen wie die schlange
müsste man
seine haut
oder sich schälen lassen
vom tag
sieben mal
neu sein
ist
ohne stachel im fleisch
fehlversuch
F. Eckhard Ulrich (ich habe aufgegeben dieses land zu lieben. fliegenkopf verlag, Halle, 1994, S. 37)
Literarische Würdigung
Einige Zeit
nach dem Selbstmord
werden vielleicht
ihre verzweifelten Verse
nicht mehr nur
als besonders geglückte Gedichte
sondern sogar
auch
als Verzweiflung erkannt
Erich Fried (Gesammelte Werke. Bd. 3, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1993, S. 211)
Die Zukunft ist ein sichres Versteck für unsre Vergangenheiten.
Peter Horst Neumann („Vorsehung“, aus: Pfingsten in Babylon, Residenz Verlag, Salzburg u. Wien 1996, S. 86)
Aufführungen
Uraufführung:
25. Mai 2008: Oldenburg, theaterfabrik rosenstraße; Matthias Lorenz, Cello
weitere Aufführungen:
29. Mai 2008: Dresden, blaue Fabrik
30. Mai 2008: Frankfurt am Main, Werkstatt Simon Enke
17. April 2009: Oldenburg, Carl von Ossietzky-Universität
5. März 2020: Projekttheater Dresden, Matthias Lorenz Vc
7. März 2020: Ausstellungshalle Frankfurt am Main, Wdh. vom 5. März
9. März 2020: Kunstverein Oldenburg, Wdh. vom 5. März
Kritik
Nordwest-Zeitung vom 11. März 2020 zum Konzert am 9. März 2020
KONZERT IN OLDENBURG
Packender Cello-Abend im Kunstverein
von → Horst Hollmann
Oldenburg. Auf gute 170 Zentimeter Höhe bringt es ein Violoncello, Stachel herausgezogen und hoch bis zur Schnecke gemessen. Als reine Spielfläche reichen 70 Zentimeter Griffbrett und Saiten zwischen Obersattel und Steg. Summa summarum: Da bleibt viel ungenutzter Raum für die Herstellung von Tönen.
Einer wie Friedemann Schmidt-Mechau muss das ähnlich gesehen haben. Und der gerade 65 Jahre alt gewordene Komponist hat gehandelt. Seine Cellowerke gestaltet er als Gesamtkunstwerke für das Instrument, bis hin zu pantomimischen Körperhaltungen des Spielers. Der schlägt den Stachel col legno mit dem Bogenholz an, streicht über Saitenhalter und Wirbel. Geburtstag feiert der Komponist beim Oldenburger Kunstverein und mit einem zunehmend gepackten Publikum. Vier Solowerke zelebriert der Neue-Musik-Spezialist Matthias Lorenz aus Dresden.
Erst mit 33 Jahren hat Schmidt-Mechau begonnen zu komponieren. Oldenburg mit der Universität, mit dem Ensemble oh-ton und verschiedenen Chorleitungen war sein Lebensmittelpunkt, ehe er 2014 in seine Geburtsstadt Frankfurt übersiedelte. Das Oldenburger Programm, an den Tagen vorher schon in Dresden und Frankfurt umgesetzt, gibt einen informativen Überblick über seine kompositorische Entwicklung: „Aposiopesis“ von 1990, „Morgenlachen“ von 1997, „Fehlversteck“ von 2007 und „Ent-Gegnung“ von 2019 als Uraufführung.
Lorenz verrät, „dass der Komponist das Cello erst einmal als Gegenstand sieht, mit dem man Klänge produzieren kann.“ Nach den noch vorhandenen Kantilenen im ersten Werk wird die Musik zunehmend dichter und karger, oft auch inniger. Glissandi sind ein besonderes Stilmittel Schmidt-Mechaus. Ansonsten herrscht ein gewaltiges Reiben, Rutschen, Zischen, Knispeln, Knarzen, Knurpseln, Knistern, Klopfen, Hauchen und auch mal Singen. Die Vielfalt scheint unbegrenzt, und der Cellist ist ihr glänzender Regisseur und Arrangeur.
Der Cellist muss sein Instrument strapazieren. Da reißt er die Saiten hoch und lässt sie zu knallenden Pizzicati zurückschnappen. Dann ächzen die Saiten, wenn er den Bogen wie einen Planierpflug nach oben über sie zieht. Und der Corpus muss allerhand Klapse einstecken. Doch es gibt auch Erholung. In einem Satz stellt Lorenz lautlos und ohne Belästigung des Instruments zwölf Haltungen nach, die ein Cellist im Spiel einnehmen kann. Darf man das sagen: Es ist faszinierend?
Doch unentrinnbar zieht die Musik die Hörer in ihren Bann. Sie baut auf oft durch veränderliche Zahlenreihen festgelegte Abläufe. Man muss sie beim Hören nicht begreifen, man ahnt jedoch, dass jede Aufführung andere Abfolgen bringt. Ihre große Kraft liegt darin, selbst kleinteilige Gestaltungen und verwürfelt scheinende Abläufe zu einer spürbar logischen Einheit zusammenzuführen. Das ist in der Tat ein starkes Stück Neuer Musik.
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