→ Aufführungen
Im Januar
Musik für vierstimmigen Chor
mit einem Text von → Paulo Suess

ca. 8 Min.
komponiert 1988, Uraufführung 1989
→ Download pdf 415 kB

Einführung


Das Stück ist während meines Studiums entstanden. Ich habe darin polytonalen Kontrapunkt untersucht. Jeder der vier Stimmen ist eine diatonische Skala zugeordnet (Sopran 1b, Alt 1#, Tenor 3b, Bass 3#), gelegentlich behandele ich diese Skalen tonal, als Dur- oder Moll-Tonleiter. Dies beschränkt sich aber auf die einzelnen Stimmen. Im Zusammenklang kommen auch tonale Wendungen vor, diese bilden dann ganz andere Zusammenhänge. Die Musik folgt sehr stark dem Text, es gibt zwar keine strophischen Wiederholungen, das Stück ist durchkomponiert, doch die Gedichtstruktur bildet auch die musikalische Form. In die Prosodie des Textes sind verschiedenste Bewegungsformen als rhythmische Grundlage komponiert.
Paulo Suess, der Autor des Textes, war zum Zeitpunkt der Komposition Indianer-Beauftragter der katholischen Kirche in Brasilien. Seine Gedichte schreibt er in brasilianischem Portugiesisch und übersetzt sie selbst ins Deutsche.


Text


Im Januar

von → Paulo Suess

Jede Nacht
wenn ich nach Hause zurückkehre
stolpere ich über menschliche Bündel
Hindernisse für den Galopp der Welt;
unter Decken aus Zeitung
widerstehen sie dem Regen
und dem kalten Blick öffentlicher Beleuchtung.
Es ist Januar.

Träume und Leiber
hingeworfen auf dem Gehsteig
der Straße des 31. März.
Schlafstatt von Abfallmenschen
mit täglichen Übungen
im Aufschub des Todes
wie Flüge bei Schlechtwetter.

Sag mir, Merkur
planetarischer Bote
ist Leben nur Abhängigkeit
von guten Beziehungen zur Polizei
wie beim verbotenen Glücksspiel?
Oder Vertrauen auf den Riecher des Straßenkehrers
der menschliche Ausdünstung
vom Fäulnisgeruch des Abfalls
unterscheiden dürfte.

Jede Nacht
überfällt mich dieser Alptraum:
ich lege meinen Kopf in eine Guillotine
deren Fallbeil zittert, doch nicht fällt
weil die Todesstrafe im Land
ja abgeschafft worden ist.
Die Guillotine wird zum Joch
und ich recke meinen Nacken
ziehe einen Karren, brülle und schreie:
"Unabhängigkeit oder Tod"
als wär ich der Kaiser am Ipiranga-Fluß.
Die Furcht vor der festgesetzten Stunde
lehnt sich auf gegen die tägliche Unterwerfung.

Jede Nacht
in meiner Hängematte schaukelnd
träume ich eine Welt
in der wir mit den Maiskolben
auch die Bündel im Rinnstein entblättern;
ich erfinde mit leiser Stimme
den Gesang eines Kontinents
ohne menschlichen Ausschuß
wo alle notwendig sind.

Noch ist es zu früh, um die Erde zu pflügen
und das Kornfeld zu bestellen.
Ich muß den Löschkalk meines Worts
über die Leichen der Lüge werfen.
Noch ist es zu früh zu fröhlichem Lärmen.
Es ist eine Zeit kleiner und saurer Trauben.
Der Fluß steigt und niemand weiß bis wohin.
Noch ist es Januar.

Anmerkungen:
31. März: Am 31. März 1964 putschte das Militär in Brasilien und setzte die demokratisch gewählte Regierung des Präsidenten João Goulart ab. Danach regierten die Generäle das Land.
Ipiranga-Fluß: Der Sohn des brasilianischen Königs, Dom Pedro, stieß am 7. September 1822 zwischen Santos und São Paulo den Schrei von Ipiranga aus. Am 12. Oktober 1822 wurde Dom Pedro zum Kaiser von Brasilien ausgerufen. Damit war der Bruch mit Portugal und der Schritt zur Unabhängigkeit vollzogen.

Aufführungen


Uraufführung:
22. April 1989: Kulturzentrum Schlachthof, Bremen; Solistenensemble: → Ulrike Janssen Sopran, → Karen Jürgens Alt, → Christian Gerds Tenor, → Helge Rowold Bass und Friedemann Schmidt-Mechau Dir