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Marxgespenster

Musik für Bariton und Ensemble

ca. 11 Min. 15 Sek.
komponiert 2018

Ensemble: Bariton, Bassflöte in C, Oboe, Bassethorn, Fagott, Horn in F, kleine Trompete in B,
Kontrabassposaune, Klavier, Schlagzeug, 2 Violinen, Viola, Violoncello, Kontrabass


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Einführung


Im Jahr des 200. Geburtstages von Karl Marx und dreißig Jahre nach dem Ende des „real existierenden Sozialismus“ geistert das Marx'sche Gedankengut mit unverminderter Anziehungskraft für die einen und mit erneuertem Schrecken für die anderen durch die Welt.
Der Spuk, die Gespenster und Fetische (der Ware, des Geldes, des Marktes usw.), die Marx in seinem „Kapital“ analysiert, haben sich in Zeiten der neoliberalen Fokussierung der Regulierung durch den „freien Markt“ und die systematische Verschleierung der gesellschaftlichen Verhältnisse mittels der Virtualisierung der Zeit und des Raumes vermehrt, die weltweite Ungleichheit und Ungerechtigkeit steigt ins Uferlose.

Jacques Derrida hat sich in seinen Vorträgen von 1993, die in dem Bändchen „Marx’ Gespenster“ (Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004) veröffentlicht wurden und nach dem hier zitiert ist, gleich der Frage nach Gerechtigkeit zugewandt und gewarnt: Was zu geschehen droht, ist, dass man Marx gegen den Marxismus auszuspielen versucht, um (…) den politischen Imperativ zu neutralisieren oder jedenfalls abzudämpfen. (…) Dieses jüngste Stereotyp wäre (…) dazu bestimmt, die marxistische Referenz zutiefst zu entpolitisieren, indem man (…) die Revolte in ihm zum Schweigen bringt [man akzeptiert die Wiederkehr (le retour), vorausgesetzt, dass die Revolte nicht zurückkommt, die zuerst den Aufstand, die Empörung, die Erhebung, den revolutionären Schwung inspirierte]. Man wäre bereit, die Wiederkehr von Marx oder die Rückkehr zu Marx zu akzeptieren, unter der Bedingung, dass mit Schweigen übergangen wird, was da nicht nur zu entziffern gebietet, sondern zu handeln, aus der Entzifferung [der Interpretation] eine Transformation zu machen, die „die Welt verändert“. (S. 52)

Die Komposition Marxgespenster verwandelt einige Figuren der Marx’schen Gespenster, wie Derrida sie analysiert, in musikalische Strukturen. Dies sind in den ersten drei Teilen des Stückes zunehmend gebrochene Strukturen des Wachstums, der Verlorenheit, der penetranten Eindringlichkeit und des Festhaltens. In diese Strukturen mischen sich in kurzen Figuren Fetzen einer Reihe von revolutionären Liedern der letzten fünf Jahrhunderte - Lieder aus den Bauernkriegen, der französischen Revolution und aus den revolutionären Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Diese Zitate überlagern die musikalischen Strukturen, verdichten sich und beenden jeweils einen Abschnitt mit einem verfremdeten Motiv von Hanns Eislers „Solidaritätslied“.
Im letzten Abschnitt, in welchem der Bariton den Text aus dem Roman „Das siebte Kreuz“ von → Anna Seghers singt, ändert sich die Struktur grundlegend und orientiert sich nun ausschließlich an der Gesangs-Melodie. Auch hier erscheinen am Ende wieder Motive aus dem „Solidaritätslied“. Dieser Abschnitt verschiebt damit den Blick vom Zustand unserer Welt und ihrer Gespenster auf die Menschen, deren Leistungen nicht anerkannt, die marginalisiert und überflüssig gemacht werden.
Das systematische Übersehen dieser Menschen ist nicht nur ein Zeichen der immer noch existierenden Klassengesellschaft. Es zeigt auch das verdrängte Schuldbewusstsein unserer reichen Gesellschaft, die sich nicht eingesteht, woher ihr Reichtum stammt und zu welchen inhumanen Bedingungen ein Großteil der Menschheit verurteilt wird, um diesen Reichtum zu gewährleisten.
Dazu noch einmal Derrida: Welcher Zynismus des guten Gewissens, welche manische Verleugnung bringt jemand dazu, zu schreiben – wenn nicht gar zu glauben -, dass „alles, was der wechselseitigen Anerkennung der Würde der Menschen immer und überall im Wege stand, von der Geschichte widerlegt und beerdigt wurde“? (Das Zitat stamm von Allan Bloom. Derrida zitiert hier nach Michel Surya, „La puissance, les riches et la charité“, in: Lignes, „Logiques du capitalisme“, Nr. 18, Januar 1993, S. 30)


Text


Das letzte Fünkchen im Ofen verglüht. Wir ahnen, was für Nächte uns jetzt bevorstehen. Die nasse Herbstkälte dringt durch die Decken, durch unsere Hemden, durch unsere Haut. Wir fühlen alle, wie tief und furchtbar die äußeren Mächte in den Menschen hineingreifen können bis in sein Innerstes.
Aber wir fühlen auch, dass es im Innersten etwas gibt, was unangreifbar ist und unverletzbar.

→ Anna Seghers: Das siebte Kreuz (Aufbau Verlag, Berlin 2015, S. 431)
(im Original: Präteritum)