→ Aufführungen | → Kritik

am Rande bin, konzentrisch

Musik für Schlagzeug, Streichquintett und Orchester

ca. 16 Min.
komponiert 1990, Uraufführung 1991
→ Download pdf 2141 kB
→ Video mit Partitur, Aufnahme 1991 Leverkusen, → Robyn Schulkowsky - Schl, → Bayer Philharmoniker, → Rainer Koch - Ltg.

ausgezeichnet mit dem Kompositionspreis
des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft im BDI
und der Gesellschaft für Neue Musik 1991

Orchester-Besetzung: 3 Flöten (1. & 2. auch Picc, 1. auch c#5-Orgel-Pf.), Oboe, Englh., 3 Klar. (1. auch kl. As-Klar, 3. auch Baßklar), 2 Fag. (2. auch Kfag) / 4 Hörner, 3 Tp, 2 Pos, Kb-Pos, 1 Tuba / Solo-Schl (3 gr.Tr., kl.Tr., Rührtr., 4 Tomtom, 4 Holzblock-Tr., 4 Holz-Tomtom), Pk, Glsp, Hf / Str-Qui: 2.1.1.1. / Streicher

Einführung


Ein seltsames Erbe hat uns die Nachkriegsgeneration hinterlassen. Der „Avantgarde“-Anspruch und die Anhäufung von Qualitätskriterien, wie sie mehr von Theoretikern, als von Komponisten der Neuen Musik formuliert wurden, und die höchst zweifelhaft scheinen, da sie kaum je belegt wurden, haben zu einer Situation geführt, in der Hörer ihren Ohren nicht mehr trauen, in der das Sprechen über Musik kaum noch möglich scheint, und in der Bedeutungsanspruch und tatsächliche gesellschaftliche Relevanz gewaltig auseinanderklaffen.
Eine Quelle des Missverstehens scheint mir in den Formulierungen der Adorno-Schule über das „musikalische Material“ und seine historische Entwicklung zu liegen. Diese Formulierungen richteten sich zunächst gegen eine unhistorische Auffassung von Musik, so als gäbe es eine absolute Position außerhalb der menschlichen Gesellschaft und Geschichte, von der aus man Musik machen könnte, - eine Auffassung, die natürlich unsinnig ist. Gleichzeitig wurde aber eine erneute „absolute“ Position formuliert, die sich mit dem Fortschrittsbegriff der bürgerlichen kapitalistischen Gesellschaft verbindet, so als könnte Kunst nicht genau diese Auffassung von Fortschritt auch reflektieren. Obwohl die heutige Gegenwart von Musik aller historischen Zeiten diese Vorstellung eines Fortschritts offensichtlich aufhebt, erübrigt sich die Auseinandersetzung mit den beiden genannten Positionen nicht, denn sie sind weiterhin präsent.
Im Kern handelt es sich um die Frage nach der Trennung oder nach der Verbindung von Denken und Fühlen.
Dabei liegt für mich die Besonderheit der Musik gerade in der Untrennbarkeit dieser beiden Aspekte. Weder darf Musik als eine reine Gefühlsangelegenheit verhandelt werden, in der intellektuelle, strukturelle, konstruktive, ja mathematische Fragen keine Rolle spielten, noch läßt sich aber die Musik auf diese Fragen reduzieren. In beiden Fällen würde das Wesentliche verloren gehen, und in unserer Gegenwart begegnen uns immer wieder Beispiele solcherart amputierter Musik. Ich halte es mit dem althergebrachten Kriterium von der Unausschöpfbarkeit der Kunst, welches besagt, dass die Sinne und der Verstand in gleicher Weise von einem Kunstwerk in Bewegung versetzt werden, und das Ganze mehr ist als seine Teile, weswegen es immer wieder neue Entdeckungen ermöglicht. Daher halte ich nicht wirklich für möglich, den Kompositionsprozess ausschließlich rational zu steuern.

Das was ich hier über meine eigenen Kompositionen berichte, sind daher immer nur Teilaspekte, und es sind natürlich die Aspekte, die am ehesten in Worte zu fassen möglich ist, - also die strukturellen, rationalisierten Ebenen der Kompositionsarbeit, und das sind möglicherweise gar nicht die wesentlichen Ansichten einer Komposition.
Daher bin ich neugierig darauf, was andere Menschen in meinen Kompositionen entdecken, und freue mich, wenn mir das mitgeteilt wird.

In am Rande bin, konzentrisch sind es vor allem drei musikalische Gebiete, mit denen ich mich befasst habe:
Die Komposition beruht auf einer einfachen Struktur:
5-1-2-5-1-5-2-1-5, die als Intervall- und auch als rhythmische (Dauern)-Reihe verstanden wird. Als Intervall-Reihe ergibt sie einen 10-tönigen symmetrischen Akkord, der auch umgekehrt vorkommt:
7-11-10-7-11-7-10-11-7.

Ähnlich dem Verfahren, das in der Aposiopesis - Musik für Violoncello im Kleinen angewandt wurde, beschäftige ich mich hier mit der Idee von in die Zeit stürzenden Klängen und zu Klang verschmelzender Zeit. Damit kombiniere ich die traditionellen Variationsverfahren Umkehrung, Krebs, Diminuition und Augmentation in zeitlicher und intervallischer Hinsicht so miteinander, daß die Dimensionen der Notation Tonhöhe (Vertikale) und Rhythmus (Horizontale) sich ineinander verwechseln, mit allen Zwischenstufen klanglich-rhythmischer Disposition.



Aus einem Akkord (1) wird ein Ereignis fallender, nacheinander immer höher einsetzender Glissandi (2) oder eine rhythmische Abfolge gleicher Cluster (3).

Das hier sehr vereinfacht dargestellte Prinzip ist in meiner Komposition als wesentlich komplexer zusammengesetztes Muster auf die fünf Orchesterteile als Ganzes angewandt. Damit ziele ich auf eine sich entwickelnde innere Verbundenheit, in der jeder musikalische Punkt die Möglichkeit seiner Veränderung auf der Spur einer Raum-Zeit-Ellipse in sich trägt.

Jedes dieser fünf Teile hat seine frei hinzugesetzten „Wölfe“.
Am Anfang und am Ende stehen die beiden Akkorde als stehende Klänge mit farblicher Binnenstrukturierung. Die Zwischenteile v.a. die Schlagzeug-Soli und das Solo des Streich-Quintetts sind aus Resten gewonnen, die aus überschüssigen Drehungen stammten.

Zum zweiten beschäftige ich mich mit der inneren Ausgestaltung von stehenden Klängen. Dynamische Veränderungen innerhalb eines Klanges, Herausheben und Verdecken einzelner Klangbestandteile, klangfarbliche Veränderungen durch Ablösung von Instrumenten, innere Bewegtheit durch verschiedene Formen von Vibrato, Wandel der Geräuschanteile sind die Methoden, die innerhalb der Komposition immer wieder eingesetzt werden.
Oft wird solche innere Bewegung als psychologisches Moment verstanden. Für mich liegt ein anderes Verständnis näher: Die Empfindung in einer Welt zu leben, die überfällige Veränderungen nicht vollzieht, da die Beharrungswiderstände nicht überwunden werden, eine Welt, die voller rasender und nicht auszuhaltender Widersprüche ist, und in der sich trotzdem nichts bewegt. Diese Empfindung verknüpfte sich zum Zeitpunkt der Komposition, mit meiner persönlichen Situation nach dem gerade fünf Jahre vorher vollzogenen Wechsel vom Tischlerberuf in das Musik- und Kompositionsstudium: Obwohl dies für mich ein existentiell tiefgreifender Wandel war, erlebte ich doch ganz ähnliche Einengungen, denen ich aus der Tischlerei entflohen war, in der Universität, der Musikhochschule und dem Musikleben wieder - Einengungen, die mit dem ausschließlichen Interesse an Klassifizierung und der Zuordnung von Funktionen jede Möglichkeit offener Wahrnehmung verstellten. „... anstatt jeden Hörens, unfähig zu staunen außerstande in Verwirrung zu geraten, läßt sich nichts Neues, nichts Fremdes, nichts Bewegendes entdecken“, formulierte ich damals.
Der Versuch, einen solchen Starrezustand, in dem es brodelt und kocht, musikalisch darzustellen, begründet das Interesse an der oben beschriebenen Struktur.

Schließlich ist über das ganze Stück ein Bogen der Tempo-Relationen 12 : 9 : 4 : 8 : 12 gespannt.
Damit geraten die durch ihre innere Substanz aufeinander bezogenen Einzelteile in eine Zeitform, die zwingend wird und sie gleichzeitig voneinander abhebt. Die Arbeit mit solchen Tempo-Relationen, wie sie dann auch in dem Klavierstück „Tagtraumgewölbe“ angewendet wurden, rührt von der lebensweltlichen Wahrnehmung von der Gleichzeitigkeit verschiedener Geschwindigkeiten her, und steht für mich in intensiver Verbindung zu dem „Starrezustand“ der stehenden Klänge.

Die Begegnung und die Erarbeitung des Stückes mit Robyn Schulkowsky und den Bayer Symphonikern war natürlich eine tiefgreifende und prägende Erfahrung und die Auszeichnung mit dem Kompositionspreis des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft im BDI und der Gesellschaft für Neue Musik eine wunderbare Bestätigung.


Aufführungen


Uraufführung:
14. November 1991: Symphonie-Konzert der → Bayer Philharmoniker, Erholungshaus Leverkusen, → Robyn Schulkowsky - Schlagzeug, Bayer Philharmoniker, → GMD Rainer Koch - Leitung;
Mitschnitt: Tonstudio op. 80, Torsten Wintermeier, Frankfurt am Main 1991

weitere Aufführungen:
15. Nov. 1991: Wiederholung vom 14. November 1991
16. Februar 1992: Öffentliche Generalprobe und
17. und 18. Februar 1992: Symphonie-Konzert des Staatstheaters Oldenburg; → Axel Fries - Schlagzeug, → Oldenburgisches Staatsorchester, → Georg Schmöhe - Leitung

Rundfunksendungen:
27. Oktober 1993: Radio Bremen 2

Kritik


Nordwest-Zeitung vom 19. Febr. 1992, zum Konzert am 9. März 2020

Packender Cello-Abend im Kunstverein
Konzert in Oldenburg
von → Horst Hollmann

Oldenburg - Auf gute 170 Zentimeter Höhe bringt es ein Violoncello, Stachel herausgezogen und hoch bis zur Schnecke gemessen. Als reine Spielfläche reichen 70 Zentimeter Griffbrett und Saiten zwischen Obersattel und Steg. Summa summarum: Da bleibt viel ungenutzter Raum für die Herstellung von Tönen.
 Einer wie Friedemann Schmidt-Mechau muss das ähnlich gesehen haben. Und der gerade 65 Jahre alt gewordene Komponist hat gehandelt. Seine Cellowerke gestaltet er als Gesamtkunstwerke für das Instrument, bis hin zu pantomimischen Körperhaltungen des Spielers. Der schlägt den Stachel col legno mit dem Bogenholz an, streicht über Saitenhalter und Wirbel. Geburtstag feiert der Komponist beim Oldenburger Kunstverein und mit einem zunehmend gepackten Publikum. Vier Solowerke zelebriert der Neue-Musik-Spezialist Matthias Lorenz aus Dresden.
 Erst mit 33 Jahren hat Schmidt-Mechau begonnen zu komponieren. Oldenburg mit der Universität, mit dem Ensemble oh-ton und verschiedenen Chorleitungen war sein Lebensmittelpunkt, ehe er 2014 in seine Geburtsstadt Frankfurt übersiedelte. Das Oldenburger Programm, an den Tagen vorher schon in Dresden und Frankfurt umgesetzt, gibt einen informativen Überblick über seine kompositorische Entwicklung: „Aposiopesis“ von 1990, „Morgenlachen“ von 1997, „Fehlversteck“ von 2007 und „Ent-Gegnung“ von 2019 als Uraufführung.
 Lorenz verrät, „dass der Komponist das Cello erst einmal als Gegenstand sieht, mit dem man Klänge produzieren kann.“ Nach den noch vorhandenen Kantilenen im ersten Werk wird die Musik zunehmend dichter und karger, oft auch inniger. Glissandi sind ein besonderes Stilmittel Schmidt-Mechaus. Ansonsten herrscht ein gewaltiges Reiben, Rutschen, Zischen, Knispeln, Knarzen, Knurpseln, Knistern, Klopfen, Hauchen und auch mal Singen. Die Vielfalt scheint unbegrenzt, und der Cellist ist ihr glänzender Regisseur und Arrangeur.
 Der Cellist muss sein Instrument strapazieren. Da reißt er die Saiten hoch und lässt sie zu knallenden Pizzicati zurückschnappen. Dann ächzen die Saiten, wenn er den Bogen wie einen Planierpflug nach oben über sie zieht. Und der Corpus muss allerhand Klapse einstecken. Doch es gibt auch Erholung. In einem Satz stellt Lorenz lautlos und ohne Belästigung des Instruments zwölf Haltungen nach, die ein Cellist im Spiel einnehmen kann. Darf man das sagen: Es ist faszinierend?
 Doch unentrinnbar zieht die Musik die Hörer in ihren Bann. Sie baut auf oft durch veränderliche Zahlenreihen festgelegte Abläufe. Man muss sie beim Hören nicht begreifen, man ahnt jedoch, dass jede Aufführung andere Abfolgen bringt. Ihre große Kraft liegt darin, selbst kleinteilige Gestaltungen und verwürfelt scheinende Abläufe zu einer spürbar logischen Einheit zusammenzuführen. Das ist in der Tat ein starkes Stück Neuer Musik.