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Einführung
Zeit - der eigentliche Stoff der Musik - lässt sich nur in ihrer paradoxen Doppelnatur auffassen, die sie immer als zweierlei erscheinen lässt: Punkt (oder Folge von Punkten) und Raum, Moment und Dauer, Nu und Weile, Wandel und Kontinuum, Kairos und Kronos. Ausgangspunkt der kompositorischen Problemstellung ist die Überlegung, diese Doppelnatur auf das gesamte musikalische Material und seine Ausformung, auf die instrumentale Behandlung, die zeitlich-formale Gestaltung, die Ton-Ordnung und schließlich mit der Notation auch auf das Spiel selbst zu
übertragen; und dies, nicht um die Paradoxie dort aufzulösen, sondern sie im musikalischen Material zu bewahren und durch es spürbar, hörbar und sichtbar zu machen.
Die aufgrund der Ausgangsüberlegung gewählte Methode setzt zunächst und vor allem an den instrumentalen Bewegungen an. Neun elementare Bewegungsdimensionen des Violoncello-Spiels, die im traditionellen Spiel in unbedingtem Gefüge fester Hierarchie stehen, werden ihres Kontextes enthoben, isoliert und als selbständige, gleichberechtigte Kontrapunkte in einen neuen Zusammenhang
gebracht.
Dies hat weitreichende Folgen:
Üblicherweise gibt der Notentext eine Vorstellung, wie etwas klingen soll, und der Spieler entwickelt daraus seine Bewegungen im Spiel. Hier gibt der Notentext an, wie der Spieler sich bewegen soll. Und das Feld der Möglichkeiten, wie es klingen wird, ist ein ganz anderes Feld als der offene Bereich in der üblichen Notation. Für den Spieler bedeutet dies: Er muss sein Üben vollständig umkrempeln. Absolut faszinierend war es für mich daher, den Übe-Prozess von Matthias Lorenz zu beobachten, der das Stück uraufgeführt hat.
Doch zurück zu den neun Bewegungsdimensionen:
Der kontrapunktische Zusammenhang entsteht auf dem Hintergrund einer quasi seriell-kontrapunktischen Struktur, der als Reihe nicht (Grenz-) Punkte, sondern Bewegungsintervalle zugrunde gelegt sind. Das Zusammenwirken der Bewegungselemente hebt die Kontrapunktik zum Teil wieder auf, es entstehen quasi vektoriell bestimmte resultierende Bewegungen. Diese fügen sich zu Gesten, die durch ihre kontrapunktische Fundierung das Paradox von Moment und Dauer in sich bewahren. Aufgrund dieser
Widersprüchlichkeit ist der neu gefundene Zusammenhang der instrumentalen Bewegungen etwas dauerhaft brüchiges geworden, dessen Sinn in jeder folgenden Konstellation schon wieder fraglich wird. Die Reihe der Bewegungsintervalle wird als Tonordnung einfach übertragen, jedes
der 22 Stücke bearbeitet ein einziges Intervall, von der kleinen Sekund bis zur großen Septim, auf- und absteigend. Doch mit der Auffassung der Intervalle als etwas doppeltes, Zustand und Spanne,
gerät diese Tonordnung an den Rand ihres eigenen Begriffs. Wie die instrumentalen Bewegungen sich ineinander verflochten völlig verwandeln, so werden die Tonintervalle jetzt zu einem weiteren Vektoren,
oder geben Grenzpunkte für Bewegungen ab. Dass sie als Töne hörbar werden, ist ein Grenzfall geworden.
Anders als die Tonhöhe, die in Relation zu den instrumentalen Bewegungen zu einem Akzidens wird, bestimmen und wandeln Tempo und Dichte die entstandenen Gesten. Verknüpft mit der Festlegung der Dauern der einzelnen Stücke, die mit einer Länge zwischen 12 Sekunden und 1 ¾ Minuten schon für sich im Grenzbereich von Nu und Weile changieren, werden alle Tempo- und Dichte-Verteilungen durchdekliniert, um die Möglichkeiten der gestischen Figuren auszudifferenzieren.
Eine übergeordnete Form gliedert die 22 Stücke in vier Gruppen: 1-7, 8-12, 13-18 und 19-22. So wie die vier Gruppen untereinander beschreiben auch die Stücke der einzelnen Gruppen mit ihrem
Tempo, ihrer Dichte und Dauer eine Scherenform - in den beiden ersten Gruppen aus den Extremen in eine Mitte, in den beiden letzten Gruppen aus der Mitte in die Extreme führend. Diese Scherenform ist abgeleitet aus der Bewegungsintervall-Reihe und diese Analogie wird noch verstärkt durch die wechselnden Tempi aller Stücke der beiden mittleren Gruppen. Diese Replikation einer Struktur, die selbst Sinnbild für das Verknüpfen von Extremen, die Erhaltung des Widerspruchs und des Paradoxes ist, auf jede Ebene des Stückes von der Großform bis zum Detail, verschafft ihr selbst die Doppelnatur eines von Punkt zu Punkt sich wandelnden und gleichzeitig kontinuierlichen Wesens. Damit ist die Brüchigkeit des Kontextes instrumentaler Bewegung auf das ganze Stück übergegangen und macht es dadurch vielleicht überhaupt zur Frage.
Der Titel verknüpft zwei Elemente, die den Grundgedanken der Komposition reflektieren: Morgen - in seiner Doppeldeutigkeit als der herausgehobene Moment des Tagesanbruchs, mit dem alles Beginnen bildlich verknüpft ist, und als endlose Folge von nächsten Tagen, die in ihrer Kontinuität den Schrecken einer der Gegenwart gleichförmigen Zukunft andeuten; Lachen - als eine der menschlichen Begabungen, das Paradox der Zeit und den Widerspruch der Morgen menschlicher Existenz anzunehmen, sie in einen Moment zusammenzuziehen und sie lebbar zu machen.
Text
Dem Stück ist ein Text aus Shakespeares Macbeth vorangestellt:
Morgen, morgen und morgen
Kriecht so mit kleinem Schritt von Tag zu Tag,
Zur letzten Silb' auf unserm Lebensblatt;
Und alle unsre Gesten führten Narr'n
Den Pfad des stäubigen Tods. - Aus! kleines Licht! -
Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild,
Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht
Sein Stündchen auf der Bühn', und dann nicht mehr
Vernommen wird: ein Märchen ist's, erzählt
Von einem Dummkopf, voller Klang und Wut,
das nichts bedeutet.
Aufführungen
Uraufführung:
23. Juli 1997: Hoechster Schlossplatz Frankfurt-Höchst; Matthias Lorenz Vc
weitere Aufführungen:
8. Mai 1998: Musikhochschule Rostock
12. März 2000: Frankfurt am Main, Denkbar; mit einem Vortrag des Tänzers → Nik Haffner
12. Mai 2000: Wuppertal, Musikhochschule
16. Mai 2000: Frankfurt am Main, Geigenbauer-Werkstatt von Simon Natalis Enke
12. Mai 2005: Dresden, Kulturrathaus
17. April 2009: Oldenburg, Carl von Ossietzky-Universität
5. März 2020: Projekttheater Dresden, Matthias Lorenz Vc
7. März 2020: Ausstellungshalle Frankfurt am Main, Wdh. vom 5. März
9. März 2020: Kunstverein Oldenburg, Wdh. vom 5. März
Kritik
Nordwest-Zeitung vom 11. März 2020 zum Konzert am 9. März 2020
KONZERT IN OLDENBURG
Packender Cello-Abend im Kunstverein
von → Horst Hollmann
Oldenburg. Auf gute 170 Zentimeter Höhe bringt es ein Violoncello, Stachel herausgezogen und hoch bis zur Schnecke gemessen. Als reine Spielfläche reichen 70 Zentimeter Griffbrett und Saiten zwischen Obersattel und Steg. Summa summarum: Da bleibt viel ungenutzter Raum für die Herstellung von Tönen.
Einer wie Friedemann Schmidt-Mechau muss das ähnlich gesehen haben. Und der gerade 65 Jahre alt gewordene Komponist hat gehandelt. Seine Cellowerke gestaltet er als Gesamtkunstwerke für das Instrument, bis hin zu pantomimischen Körperhaltungen des Spielers. Der schlägt den Stachel col legno mit dem Bogenholz an, streicht über Saitenhalter und Wirbel. Geburtstag feiert der Komponist beim Oldenburger Kunstverein und mit einem zunehmend gepackten Publikum. Vier Solowerke zelebriert der Neue-Musik-Spezialist Matthias Lorenz aus Dresden.
Erst mit 33 Jahren hat Schmidt-Mechau begonnen zu komponieren. Oldenburg mit der Universität, mit dem Ensemble oh-ton und verschiedenen Chorleitungen war sein Lebensmittelpunkt, ehe er 2014 in seine Geburtsstadt Frankfurt übersiedelte. Das Oldenburger Programm, an den Tagen vorher schon in Dresden und Frankfurt umgesetzt, gibt einen informativen Überblick über seine kompositorische Entwicklung: „Aposiopesis“ von 1990, „Morgenlachen“ von 1997, „Fehlversteck“ von 2007 und „Ent-Gegnung“ von 2019 als Uraufführung.
Lorenz verrät, „dass der Komponist das Cello erst einmal als Gegenstand sieht, mit dem man Klänge produzieren kann.“ Nach den noch vorhandenen Kantilenen im ersten Werk wird die Musik zunehmend dichter und karger, oft auch inniger. Glissandi sind ein besonderes Stilmittel Schmidt-Mechaus. Ansonsten herrscht ein gewaltiges Reiben, Rutschen, Zischen, Knispeln, Knarzen, Knurpseln, Knistern, Klopfen, Hauchen und auch mal Singen. Die Vielfalt scheint unbegrenzt, und der Cellist ist ihr glänzender Regisseur und Arrangeur.
Der Cellist muss sein Instrument strapazieren. Da reißt er die Saiten hoch und lässt sie zu knallenden Pizzicati zurückschnappen. Dann ächzen die Saiten, wenn er den Bogen wie einen Planierpflug nach oben über sie zieht. Und der Corpus muss allerhand Klapse einstecken. Doch es gibt auch Erholung. In einem Satz stellt Lorenz lautlos und ohne Belästigung des Instruments zwölf Haltungen nach, die ein Cellist im Spiel einnehmen kann. Darf man das sagen: Es ist faszinierend?
Doch unentrinnbar zieht die Musik die Hörer in ihren Bann. Sie baut auf oft durch veränderliche Zahlenreihen festgelegte Abläufe. Man muss sie beim Hören nicht begreifen, man ahnt jedoch, dass jede Aufführung andere Abfolgen bringt. Ihre große Kraft liegt darin, selbst kleinteilige Gestaltungen und verwürfelt scheinende Abläufe zu einer spürbar logischen Einheit zusammenzuführen. Das ist in der Tat ein starkes Stück Neuer Musik.
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